Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 1

12.582 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Da kömmt der Bösewicht aus dem Pupillenloch, mehr Dimensionstor als Festungstür
Foto: Birgit Hupfeld

Rache für den Gedankenstrich

01. November 2020

„Marquise von O…“ in der Essener Casa – Auftritt 11/20

Es dröhnt beim Eintritt. Milchige Plastikvorhänge versperren den Blick in der Essener Theater-Casa. Es atmet sich schwer unter der Mundnasenbedeckung und doch, irgendwas geht da schon vor. Julietta, Heinrich von Kleists Marquise von O…, tritt vor und deklamiert – wie immer – ihre Zeitungsannonce, mit der sie den unbekannten Vater ihres ungeborenen Kindes sucht, schließlich sei sie eine Dame von vortrefflichem Ruf und so weiter. Die ollen Duschvorhänge werden heruntergerissen – es öffnet sich ein weißes Vergewaltiger-Laboratorium voller assoziierter Filmfiguren, die nun die Handlung spielen müssen.

Vom Notre-Dame-Glöckner bis C-3PO

Ein Haufen Psychos aus diversen Hollywood-Blockbustern quer durch die Jahrhunderte versucht eine Alte Ordnung aufrecht zu halten, die eine Schwangerschaft per Bindestrich nicht dulden will. Mittendrin wie Alice im schaumigen Wunderland die Marquise Julietta, verzweifelt, gedemütigt, oft anrührend leise, Silvia Weiskopf muss nicht nur gegen diese geifernde Meute antreten, sie wird auch die Dramaturgie des Stücks wunderbar zusammenhalten, denn Regisseur Christopher Fromm quetscht den Kleist durch einen interstellaren Fleischwolf. Herausgekommen ist eine Badeorgie-Szenerie weit weit entfernt, Baum, Brunnen nur Staffage, die riesige Pupille im Hintergrund mehr Dimensionstor als Festungstür, Ortswechsel passieren nur im Kopf, einige „romantische“ Handlungsstränge wurden (zu Recht) verworfen, diese Vergewaltigungs-Novelle muss im postmodernen Denken – selbst MeToo ist heute nur Symptom für ein immer noch falsches Geschlechterbild – eben neu verhandelt werden.

Zwischen Hell und Dunkel und Licht und Schatten

Leicht macht Fromm es seinem konzentriert agierenden Ensemble nicht. Durch den flächendeckenden Schaum ist der Boden rutschig (Bühne: Friederike Külpmann), die Männer (Stefan Migge sogar mit Scheuklappen) müssen sich mit absurden Kostümfindungen (Franziska Schweiger) immer wieder durch das enge Pupillen-Sternentor quetschen, der Obristin (Sabine Osthoff) im Kunstlederkostüm dürfte es schnell in Schultern und Waden zwicken, dennoch verliert die Inszenierung, die eigentlich eine Dauerperformance zwischen Hell und Dunkel und Licht und Schatten ist, nie an Drive und Schärfe. Alle Figuren außer Julietta scheinen auch irgendwie fremdgesteuert zu sein, sind sich ihrer Bewegungen und Handlungen nie sicher. Ab und an lässt die Marquise sogar nachdenklich die Zeit stillstehen, wenn es zu übel wird, sich die Sätze verselbstständigen. Sie will nicht wie eine Festung erobert werden, das wird schnell klar. Doch noch sitzen ihr Kleist im Nacken und der Vater (Jürgen Hartmann) auch.Alle Beobachter der Ungeheuerlichkeiten wissen längst, dass sich der Graf F. (Philipp Noack), als er sich im Kampf tödlich verwundet glaubt: „Julietta! Diese Kugel rächt dich“, ruft und damit die Ursache des Gedankenstrichs verraten hat.Dieser Ausruf wird hier zum Subtext der interessanten Inszenierung in Corona-Zeiten, die nicht so schnell vergessen sein wird, denn Fromm liefert am Ende – auch für den Abistoff – eine tolle alternative Wahrheit. Aber wir wollen ja nicht spoilern!

Marquise von O… | R: Christopher Fromm | 15. - 17., 19.12. je 19 Uhr | Theater Essen | 0201 812 22 00

PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Konklave

Lesen Sie dazu auch:

Abschied und Artusepik
„Merlin oder Das wüste Land“ in Essen – Prolog 04/23

„Bedürfnis nach Wiedergutmachung“
Aisha Abo Mostafa über „Aus dem Nichts“ am Theater Essen – Premiere 02/23

„Den Begriff Familie mal überdenken“
Intendant Christian Tombeil über das Essener Spielzeitmotto „We are family“ – Premiere 09/20

Love is in the air
Der Theater-März im Ruhrgebiet – Prolog 02/19

Böse Welt da draußen
„Auerhaus“ im Essener Casa – Theater Ruhr 01/19

Das rituelle Begräbnis von Visionen
„Proletenpassion“ zum Ende des Bergbaus in Essen – Auftritt 06/18

„Der ewige Konflikt zwischen Mensch und Maschine“
Nils Voges zur Inszenierung von „Metropolis“ im Theater Essen – Premiere 02/18

Inspiration Ruhrpott
TUP-Festtage 2018: Kunst5 „Heim Art“ – das Besondere 02/18

Scheitern des Verschwindens
Festival „638 Kilo Tanz“ in Essen – das Besondere 11/16

Zwischen Wunschpunsch und Biofleisch
Die Letzten sind nie die Ersten. Vorweihnachtsstücke im Ruhrgebiet – Prolog 10/16

Jack Sparrow singt Oper
Guy Joosten inszeniert „Die schweigsame Frau“ in Essen – Oper in NRW 04/15

Von der RAF bis an Belt
Elfriede Jelineks „Wolken.Heim“ am Theater Essen – Theater Ruhr 04/15

Bühne.

Hier erscheint die Aufforderung!