Ziel der Volxbühne in Mülheim ist es, den Dialog zwischen den Generationen in der Stadt mit der zweitältesten Bevölkerung noch intensiver in Gang zu setzen. Wir sprachen mit dem künstlerischen Leiter und Regisseur Jörg Fürst.
trailer: Herr Fürst, der demografische Wandel schreitet fort. Braucht die Welt also Senioren-Laientheater?
Jörg Fürst: Es ist ja kein Senioren-Laientheater. Wir versuchen heute, das ehemalige Ensemble Mülheimer Spätlese in eine Zukunft zu überführen. Und es für Neues zu öffnen, auch für andere Generationen, für alle die Lust haben einen Dialog zwischen den Generationen anzustiften. Insofern trifft diese Frage auf uns nicht hundertprozentig zu. Natürlich bin ich der Meinung, dass die Welt das schon braucht, im Alter hat man ja eine Menge zu erzählen. Aber eben auch eine Menge Erfahrung und so einen ganz eigenen Blick, eine ganz eigene Erfahrung von Wirklichkeit.
War die neue Orientierung auch Grund für den Namenswechsel?
Ja. Erst einmal muss man sehen, dass das ehemalige Ensemble der Mülheimer Spätlese ja integriert ist in den Organismus Theater an der Ruhr. Man will das unter diesem Dach auch neu für Mitwirkende, Publikum und Förderer zu platzieren. Der zweite Grund war die konzeptionelle Neuausrichtung. Das war keine Entscheidung von mir oder dem Theater an der Ruhr, sondern wir haben das Ensemble gefragt. Es gab eine Dreiviertelmehrheit für eine Umbenennung in Volxbühne.
Und warum diese Anlehnung an das Theater in Berlin?
Das hat damit gar nichts zu tun. Die Volksbühne war eine Theaterbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Hintergrund war, das Theater von der bürgerlichen Ausrichtung hin für das einfache Volk und für jedermann quasi zu öffnen. Damit hat das was zu tun. Für mich heißt das, jeder kann mitmachen, und es soll signalisieren: mitmachen unabhängig vom Bildungsstand und Nationalität.
Aber es ist ein Ensemble der Generation mit Frauenüberschuss?
Wir befinden uns jetzt in einer Übergangsphase. Da das bisher ein reines „Altentheater“ war, ist das nun mal so. In dieser Generation leben mehr Frauen mit 80 noch. Aber es gibt einen Kreis von Interessenten und Neumitgliedern, und da ist das Verhältnis ausgeglichener. Das ist ja nicht nur im Amateurbereich so, auch im Profibereich gibt es mehr weibliche Schauspieler als männliche. Dort hat das was mit dem Metier zu tun, in unserem Falle wohl eher mit der Altersstruktur.
Macht die Arbeit mit älteren Menschen das Regie führen schwieriger?
Nein, gar nicht. Die Herausforderungen sind ein bisschen anders als bei der Arbeit mit Profis. Man muss stark schauen, wo man die Leute abholt, was deren Themen sind. Auch wie man mit deren Themen umgeht, was mich gerade jetzt daran interessiert. Das ist für mich das spannende, denn ich komme aus einer rein professionellen Theaterbiografie. Ich habe ja in Köln all die Jahre eher an Experimenten orientiertes Theater gemacht, und da prallen gerade zwei Welten aufeinander. Aber das ist ein spannender Prozess, sich zusammenzufinden, eine gemeinsame Sprache zu finden und das dann auch in neue Projekte umzumünzen. Davon verspreche ich mir auch eine persönliche Entwicklung. Man wird ganz anders gefordert, kriegt dafür aber auch ganz andere Geschichten zu hören. Und so kommen einem dann auch andere Ideen.
Was ist der Mehrwert für den Zuschauer?
Gegenüber was?
Zum Beispiel dem Programm vom Theater an der Ruhr.
Es ist ein anderes Spielfeld. Wir werden in Zukunft ja durchaus auch mal etwas gemeinsam machen, sodass es eine Zusammenarbeit mit Profis gibt. Aber der Mehrwert an unserem Ensemble besteht zum Beispiel darin, wenn in unserer Bearbeitung der „Winterreise“ jemand auf der Bühne über Zeit philosophiert und sich fragt, wie viel Zeit ihm noch bleibt und was er mit der Zeit, die immer noch vor ihm liegt, anfängt, dann sind natürlich die Aussagen dieses Ensembles auf der Bühne viel authentischer. Sie sind eben Experten des Alters, im Gegensatz zu einem 25-jährigen professionellen Schauspieler, der das vielleicht spielen würde.
Das neue eigene Stück ist „mülheim_bombay_satellites“. Warum Indien?
Erstmal gibt es die Stadt Bombay ja gar nicht mehr. Das ist also im Prinzip eine Fiktion. Mein Hintergedanke dabei war das ultimativ Fremde. Wenn man reist, dann ist man ja manchmal näher bei sich, als wenn man zuhause wäre. Insofern dient diese Auseinandersetzung mit Indien wie eine Projektionsfläche. Auch vor dem Hintergrund, dass wenn wir uns mit dieser fremden Kultur beschäftigen, wir auch vor der eigene Haustür ein bisschen anders schauen. Der Blick verändert sich. Wir beschäftigen uns sehr stark mit den Beerdigungsritualen. Wie geht man dort mit den Themen Vergänglichkeit, Tod und Alter um und wie ist das hier? Wenn man sich da eingearbeitet hat, bekommt man auch auf das Thema einen anderen Blick. Das war der Grund für Indien. Das ist wie ein Spiegel, in dem wir uns neu und fremd begegnen können.
„mülheim_ bombay_ satellites“ | R: Jörg Fürst | Fr 23.1., Sa 24.1. 19.30 Uhr, So 25.1. 16 Uhr | Volxbühne Mülheim | 0208 43 96 29 11
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