Über 30 Jahre reicht die Geschichte der „Krefelder Tage für modernen Tanz“ in der Fabrik Heeder zurück. Unter dem Eindruck der Coronakrise und des Angriffs Russlands auf die Ukraine geht es in diesem Jahr um Widerstand und Zusammenhalt – um den Spannungen und Rissen in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Ein Gespräch über Perspektivwechsel, Körper in Bewegung und das Gespräch mit dem Publikum.
trailer: Frau Israel, Sie haben dieses Jahr das Festival Move! in Krefeld kuratorisch begleitet. Was hat es denn mit Flüssigkeit in politischer Hinsicht und aus einem posthumanen feministischen Verständnis auf sich?
Sarah Israel: Ich habe Dorothee Monderkamp für das „Format Move!_extended“ innerhalb des Festivals „Move! – 22. Krefelder Tage für modernen Tanz“ als Dramaturgin und Kuratorin begleitet. Sie leitet das Festival des Kulturbüros schon sehr lange und hat seit zwei Jahren immer eine externe Person für neuen Input sowie für Move!_extended dabei. Flüssigkeiten sind für mich in einem posthumanen feministischen Feminismus Liquiditäten, die Grenzen überschreiten, sich nicht an gegebene Grenzen halten, sich Wege bahnen, die neu sind und somit neue Perspektiven und Ebenen oder Verständnisse eröffnen.
Meine Frage bezieht sich auf die Arbeit von Katharina Senzenberger. Ist das eine Arbeit, die für ein Publikum außergewöhnlich ist?
Ich würde auf jeden Fall sagen, dass es in dem Ansatz wie sie Körper ausstellt außergewöhnlich ist. Da gibt es eine popkulturelle Ebene, die durch die Kostüme bedient wird und gleichzeitig diese besondere Form des Tanzens, das Gliding. Das ist fast eine Mischung aus Eiskunstlaufen und Tanz, Aerobic und zeitgenössischer Bewegungskunst. Es ist eine außergewöhnliche Seherfahrung, die einen einerseits einlädt zu reflektieren und andererseits durch das popkulturelle Moment extrem zugänglich ist.
„Es geht darum, den Körper als etwas zu betrachten, das Potential hat Widerstand zu leisten“
Ausgehend von der Tanzkunst denkt das Festival über Widerstand und die eigene Widerstandsfähigkeit nach. Wer soll sich denn wo festkleben?
Bei uns klebt sich keine:r fest. Bei uns bleibt alles in Bewegung. Festkleben tun sich ggf. Personen mit einer bestimmten politischen Agenda. Uns geht es aber darum in Bewegung zu bleiben und den Körper als etwas zu betrachten, das ein Potential hat Widerstand zu leisten. Das kann sein, indem ich mich festklebe, das kann sein, indem ich bestimmten Körpern eine Bühne gebe. Oder es wird über ausgewählte Bewegungsmuster dargestellt oder indem ich Bewegungskulturen auf eine Bühne hole die dort vorher noch nicht waren oder indem ich Streik-Positionen auf einmal choreografiere und dadurch neue Perspektiven auf sie eröffne. Also es geht nicht um den Stillstand, sondern um das Potential, das wir mit unseren Körpern haben, um Widerstand auszuüben.
„Das gemeinsame Sprechen über Arbeiten ist gerade nach Corona ein wichtiges Angebot“
Was und wer bewegt sich denn sonst noch in den sechs Festivalwochen?
Also ganz viele andere Kompanien sowohl aus NRW als auch deutschlandweit. Anna Konjetzky aus München haben wir z.B. eingeladen oder Lois Alexander, die mit dem Stück „Yeye“ aus Berlin anreist. Und dazu haben wir auch Gäste, die uns in Interviews oder Talks einerseits mit den Künstler:innen in einen regen Austausch bringen oder eben selbst Perspektiven auf die aufgeführten Stücke und ihre Themen aufmachen. Da kommt beispielsweise Marie-Zoe Buchholz alias Zoe, eine Künstlerin aus NRW, die u.a. Voguings [Tanzstil, benannt nach der Modezeitschrift Vogue; d. Red.] praktiziert, sie führt ein Gespräch mit Lois Alexander. Nadia Shehadeh kommt auch zum Festival, eine Autorin die in Bielefeld lebt und die einen Doppelabend mit Kolja Huneck gestaltet. Da wird erst aus ihrem Buch gelesen und dann zeigen wir das Stück von Kolja Huneck und reden anschließend über die Verbindungen. Neben dem diskursiven Angebot gibt es auch Workshops wie der Jonglage-Workshop von Daan Mackel. Weitere Gesprächs- und Vermittlungsformate, Angebote für Kinder, ein Filmprogramm. Das alles sorgt für „bewegte Zeiten“ in der Fabrik Heeder.
Wie viel Regionalität steckt denn im Festival (noch) drin?
Viel! Bis auf vier Positionen, die im Rahmen der Reihe Move!_extended gezeigt werden, für die ich die Vorschläge gemacht habe und die aus einer überregionalen Sichtung kommen, sind alle Choreograf:innen des Festivals in NRW basiert. Bei den Personen, die Workshops geben oder Gesprächspartner:innen sind, haben wir auch geschaut, dass sie aus der Region kommen, damit man die wiederum mit den Gästen vernetzt, die außerhalb eingeladen sind.
„Ein Festival, das eine ganz große Tradition hat“
Wie wichtig ist das Rahmenprogramm mit Workshops und Gesprächen?
Das ist ein Bereich, der in den letzten Jahren wahnsinnig an Bedeutung gewonnen hat. Und das Festival hat darauf stets einen besonderen Fokus gelegt. Da stecken zwei Intentionen hinter. Das eine ist, dass man durch Workshop-Angebote versucht, Menschen auf eine ganz eigene Art für Tanz oder auch die eingeladenen Produktionen zu sensibilisieren und Menschen damit auch einlädt, die Lust verspüren, selber eine körperliche Erfahrung machen zu wollen. Und beim Jonglage-Workshop geht es auch um die Gewinnung eines jungen Publikums, das ist erstmal spielerisch. Was sich auch sehr entwickelt hat, ist das gemeinsame Sprechen über Arbeiten. Das ist gerade nach Corona ein wichtiges und schönes Angebot, weil wir in den letzten Jahren nicht so viele Angebote hatten, wo wir in einen öffentlichen Austausch gekommen sind. Darüber hinaus gibt das gesamte Rahmenprogramm Einblicke in die Vielfalt des Tanzes.
Warum gibt es gerade in Krefeld die Tage für modernen Tanz?
Das ist eine gute Frage. Die Geschichte dieses Festivals ist über 30 Jahre alt. 1994 fand es erstmalig in der Fabrik Heeder statt. Die Fabrik Heeder wurde 1989 als Kulturzentrum der Stadt Krefeld eröffnet, und seit Anbeginn haben die Verantwortlichen des Kulturbüros dem zeitgenössischen Tanz ein wichtiges Forum geboten. Das ist alsoein Festival, das eine ganz große Tradition hatund dass es immer noch da ist, kommt durch die unermüdliche Arbeit vom Kulturbüro und von Dorothee Monderkamp, die im Tanz sehr viel Potential sieht, auch Potential für Begegnung, und mit der Fabrik Heeder hat Krefeld auch einen wahnsinnig schönen Ort dafür. Kulturpolitisch finde ich es sehr wichtig, dass es in Krefeld stattfindet. Erwähnenswert finde ich noch, dass 1957 die erste Internationale Sommerakademie des Tanzes in Krefeld stattfand. Und das jährlich bis 1960. Dann wanderte sie aufgrund ihrer Größenordnung nach Köln, wo sie bis 2000 stattfand.
„Spiel mit dem weiblichen Körper und Klischees“
Die Anreise aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet ist ja auch nicht weit.
Für mich aus Berlin würde ich sagen, das ist ein Klacks. Hier fahren wir eine Stunde von Prenzlauer Berg bis nach Neukölln und sind in derselben Stadt. Das hängt immer davon ab, wie die persönlichen Umstände sind.
Als alter Rhine Fire-Football Fan würde ich gerne wissen, was Radical Cheerleading ist.
Wir zeigen mit Radical Cheerleading ein Stück über Tanz als Protestform von Zufit Simon aus Berlin. Das ist eine Protestform, mit denen Feministinnen in den 1960er Jahren für neue Formen der Emanzipation mit einem neuen Selbstverständnis auf der Straße auf sich aufmerksam gemacht haben. Das ist einSpiel mit dem weiblichen Körper und Klischees. Das hat als Mittel gleichzeitig die Bewegungen und den Ausruf und da wurden andere Parolen als die Anfeuerung veräußert.
Move! Move!_extended – 22. Krefelder Tage für modernen Tanz | bis 3.11. | Fabrik Heeder, Krefeld | 02151 86 26 00
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