Ein Baum in der Kunsthalle, oben unterm Dach, in einen Erdhügel gepflanzt von einer fast 90-jährigen Künstlerin, das hat Erinnerungspotenzial! Erinnerung ist ein großes Thema für Marianne Berenhaut. Die 1934 in Brüssel geborene Bildhauerin wird gerade (wieder-)entdeckt. Anlässlich ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland zeigt sie neben Beispielen aus ihrem Lebenswerk zwei neue Arbeiten mit Ortsbezug in dem dreigeschossigen Hochbunker, der nun als Ausstellungshaus genutzt wird – ein markanter Ort für eine jüdische Künstlerin, die als Kind den Krieg überlebte und seit rund 60 Jahren visuell-poetische Erinnerungsarbeit leistet.
Berenhauts installativer Parcours ist voller vieldeutiger Anspielungen – und seltsam beklemmend. Im Erdgeschoss legte sie Modelleisenbahnschienen auf den Betonboden, die erst parallel, dann aufgefächert diagonal an den Stützpfeiler vorbei ins Nichts führen und unvermittelt enden. Ausgestopfte Kleidungsstücke liegen auf dem Boden, ein weißes Hemd ist um einen Pfeiler geknotet, wenige Farbakzente verstecken sich in einem aufgetürmten Quader aus akkurat gefalteten T-Shirts. Vor dem biografischen Hintergrund stellen sich Holocaust-Assoziationen ein. An einer Wand lehnen S/W-Fotografien von ruinierten oder nie vollendeten Architekturmodellen – einzige Relikte von Berenhauts „Maison Skulptures“ aus den 1960er Jahren, die zerstört wurden.
Nach diesem reduzierten, irgendwie unbehaglichen Auftakt erwartet die Besucher im 1. Stock ein Farbfeuerwerk. Berenhaut kombinierte von 1980 bis 2000 ähnlich colorierte Fundstücke mit sichtbaren Gebrauchsspuren – Mäntel, Möbel, Stoffe, Teppiche, Geräte etc. – unter dem Serientitel „Vie privée“ als „Farbinseln“. Hier ein rotes, dort ein blaues und ein gelbes Ensemble, mit (auch phonetisch) mehrdeutigen Werktiteln – wer französische Aussprache beherrscht, ist klar im Vorteil. An einer Wand lehnen alte Spiegel, in Fensternischen und an Pfeilern sitzen „Poupées-Poubelles“, mit alter Kleidung ausgestopfte, kopflose Puppen aus den 1970er Jahren. Und im Obergeschoss dann der lebende Baum mitten im Raum unter Kunstlicht, die Krone fast an der Decke – er ist genauso gefangen wie vor ihm der unbenutzbare Holzstuhl hinter Absperrgitter. Der Titel der Installation „A day out“ vereint Ironie mit Aufbruchsstimmung.
De Bon Cœur / De Bunker | bis 12.11. | Kunsthalle Recklinghausen | kunsthalle-recklinghausen.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Sowohl Bio als auch Fastfood“
Nico Anklam über Søren Aagaards Ausstellung bei den Ruhrfestspielen 2024 – Sammlung 05/24
„Reaktionen auf Architekturen der Unterdrückung“
Museumsdirektor Nico Anklam über Ângela Ferreiras Kunst in Recklinghausen – Sammlung 06/23
Aus dem Eis
Video-Installationen aus Spitzbergen in Recklinghausen – Ruhrkunst 03/23
„Ich bin Freund der reduzierteren Ausstellungen“
Nico Anklam über „Anders als es scheint“ in Recklinghausen – Sammlung 12/22
Wenn das Bunte unheimlich wird
Flo’s Retrospektive in Recklinghausen – Kunstwandel 06/22
„Sichtbarkeiten für Künstlerinnen schaffen“
Direktor Nico Anklam über Flo Kasearus Retrospektive in Recklinghausen – Sammlung 04/22
Die Fläche aus Papier
Der Kunstpreis junger westen in Recklinghausen
Hinterfragung der Wissenschaft
Mariechen Danz in Recklinghausen – Kunstwandel 07/21
Das Zittern der Punkte
Kuno Gonschior in Recklinghausen – Kunstwandel 10/20
„Farbe zu sehen, sollte zu einer Erfahrung werden“
Kunsthallen-Direktor Dr. Hans-Jürgen Schwalm über Kuno Gonschior – Sammlung 09/20
Verlauf der Linie
Monika Brandmeier in Recklinghausen – Ruhrkunst 11/19
Patina der Politik
Penny Hes Yassour in Recklinghausen – Ruhrkunst 06/19
Hinter Samtvorhängen
Silke Schönfeld im Dortmunder U – Ruhrkunst 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
Die Drei aus Bochum
CityArtists in der Wasserburg Kemnade – Ruhrkunst 09/24
Roter Teppich für das Kino
Kino- und Filmgeschichte des Ruhrgebiets im Essener Ruhr Museum – Ruhrkunst 08/24
Lebendige Zeitgeschichte
Marga Kingler im Essener Ruhr Museum – Ruhrkunst 07/24
Happy End
Ausstellung über Glück in Bochum – Ruhrkunst 07/24
Im Bann der Impulse
„Radiant“ im Lichtkunstzentrum Unna – Ruhrkunst 06/24
Alle für einen
Matthias Wollgast im Märkischen Museum Witten – Ruhrkunst 06/24
Leben in der Wüste
Namibia-Ausstellung im Naturmuseum Dortmund – Ruhrkunst 05/24
Hin und weg!
„Ferne Länder, ferne Zeiten“ im Essener Museum Folkwang – Ruhrkunst 05/24
Utopie und Verwüstung
„The Paradise Machine“ in Dortmund – Ruhrkunst 04/24
Ins Blaue
„Planet Ozean“ im Gasometer Oberhausen – Ruhrkunst 04/24