Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Das betrifft schon den Titel, bei dem das Prädikat sowohl aktiv als auch passiv gemeint sein könnte. Wer hat Schaden, was ist beschädigt? Welche Rolle spielt der Künstler, Peter Piller, dabei? Die Fotografien, die in Blöcken im Schaufenster im Dortmunder U angeordnet sind, fallen zu unterschiedlich aus, als dass sie von einer einzigen Person stammen könnten. Gibt es überhaupt so etwas wie eine Handschrift, und was ist das Verbindende der Aufnahmen? Die Fotos fokussieren einzelne Orte, die kaum belangloser sein könnten. Schon die Gegenstände sind grausam angeschnitten, die Farben sind mitunter stichig und beißen sich, meist ist gar nicht klar, worum es geht und ob es überhaupt um etwas geht. Innen- und Außenraum scheinen willkürlich zu wechseln, ebenso wie Fern- und Nahsicht, langweilige Motive hängen neben solchen, die etwas Reizvolles besitzen, aber auch das ist nur eine ungefähre Ahnung ...
Tatsächlich geht es bei den Fotografien, die, von Peter Piller ausgewählt, in Dortmund zu sehen sind, um die präzise Vermittlung bestimmter Informationen. Alles Formale, Gestalterische tritt demgegenüber in den Hintergrund. Nicht beschnitten und nicht digital verändert handelt es sich hier um funktionale Dokumente. Die Fotografien stammen aus dem Archiv der Basler Versicherung. In der Folge des Bâloise Art Award, den er 2006 auf der Art Basel erhalten hat, erhielt Peter Piller Zugang zum Bildarchiv, das eine halbe Million Aufnahmen enthält, die schadhafte Stellen zur Beurteilung und Beweisführung dokumentieren. Piller hat sie im Laufe eines Jahres gesichtet und eine Auswahl aus den Fotografien der Jahre 2001 bis 2005 getroffen, wobei er nicht auf Aufnahmen zugreifen durfte, die Menschen zeigen. Indes leiten ihn bei seinen Entscheidungen ästhetische Überlegungen. Er hat die Aufnahmen im Format 57,5 x 75 cm mit einem gleichmäßigen weißen Rand im Labor abgezogen und dabei die Farbigkeit optimiert. In der Präsentation in Gruppen zu drei Reihen stellt er mögliche Zusammenhänge her, beziehungsweise überlässt das dann dem Betrachter. Peter Piller initiiert unser Nachdenken, indem er Gebrauchsfotografien aufspürt, auswählt, vergrößert, anordnet und in die Öffentlichkeit trägt.
Präzise Vermittlung bestimmter Intentionen
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich mit den Fotografien auseinanderzusetzen. Hat man das System für sich verstanden, überlegt man zunächst, wo auf dem Bild der Schaden befindlich sein könnte. Aber dann geht es weiter, entwickeln die Bilder eigene Geschichten, werden Details wichtig, erwächst daraus mitunter eine kriminalistische Schilderung. Oder die Fotografien werden zu zeitgenössischen, formal gebrochenen Darstellungen mit dem Anspruch klassischer Bildformen.
Diese Dekontextualisierung, die sich zwischen konzeptueller und fotografischer Arbeit bewegt, ist die Sache von Peter Piller, und die Ausstellung in Dortmund ist für seine Arbeit charakteristisch. Peter Piller wurde 1968 in Fritzlar geboren, er hat an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste studiert und lebt noch heute in der Hansestadt; seit 2006 ist er Professor in Leipzig. Bekannt wurde er mit seinem „Archiv Peter Piller“, das er seit Mitte der 1990er Jahre anlegt und dessen Werkgruppen er in Form von Büchern publiziert. Während ein Künstler wie Hans-Peter Feldmann sich vorrangig den privaten (Familien-) Fotos zuwendet, hat sich Piller zunächst (regionale) Zeitungen vorgenommen, die er unter bestimmten Aspekten gesichtet und deren Bilder er ausgewertet und aus ihrem journalistischen Informationspotential herausgelöst hat. Natürlich teilen diese Fotografien immer auch etwas über Zeitgeschmack mit, über Kleidung, Moden und Verhaltensmuster. Und Piller schärft den Blick für die Beschaffenheit der Bilder selbst. Im Gespräch betont er, wie schnell sich das fotografische Vorgehen im journalistischen Bereich innerhalb weniger Jahre geändert hat; dazu gehört auch, dass die Zeitungen erst seit wenigen Jahren in Farbe gedruckt werden.
Ohne und mit der Kamera
Ein weiterer, anderer Aspekt der Kunst von Peter Piller ist die eigene, aktiv aufgenommene Fotografie – aber das wäre eine andere Geschichte. Hier nun ist er, wie in vielen seiner Ausstellungsbeiträge, mit denen er mittlerweile in ganz Europa gefragt ist, ein Fotograf ohne Kamera. Er lädt dazu ein, die Bilder buchstäblich zu lesen, jedes für sich. So ist auf dem Motiv der Einladungskarte zu sehen, wie von links ein Fuß, der sich einer Frau zuordnen lässt, auf eine hellere Verfärbung der Fliesen weist. Die Frau (die selbst nicht abgebildet ist) trägt eine blaue Jeans und blaue offene Schuhe, die Fußnägel sind rot lackiert. Die Wand besteht aus einer nüchtern hellen Verschalung aus Holz. Während die Darstellung in der Tiefe leicht unscharf ist, ist die Fuge im Vordergrund breit, dominant, initiiert das Raster und eine Ordnung, die eben durch die weißlichen amorphen Verfärbungen, die sich an verschiedenen Stellen der Platten fortsetzen, in Frage gestellt wird. Dann fällt der Blick auf den Schatten, der sich unter dem durch den Zeigegestus leicht erhobenen Schuh bildet; dann auf die Schattenlinie an der Wand neben den Jeans … Natürlich trägt das Bild subtile Informationen, etwa wie man sich mit dem Fuß ausdrückt, wie die Kleidung in diesen Jahren ist, was bereits als Schaden reklamiert wird – und was die Kamera hier leistet. Jedes dieser Bilder liefert eine eigene Geschichte zwischen Beschreibung und Ereignis, Überlieferung und Zeitgeist, gängiger Umgangsform und individueller Abweichung. Und das ist erst der Anfang.
„Peter Piller – nimmt Schaden“ I bis 8. September I Schaufenster des Museum Ostwall, Dortmund I www.museumostwall.dortmund.de
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