Ein „Konzert im Morgengrauen“ eröffnet die diesjährige Ruhrtriennale in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Passender kann niemand den Zeitpunkt angesichts von Pandemie und Umwelthorror wählen. Das Grauen kam immer mit dem Morgennebel, der Angriff auf die dritte übermüdete Nachtwache gehörte zum Standard seit der Antike. Heute leitet der britische Musiker und Klangkünstler Chris Watson die letzte Wache vor dem Sonnenaufgang, während noch die Geister der Nacht ihren letzten Tanz tanzen. Das Gründungsmitglied der Electro-industrial-Band Cabaret Voltaire (remember absolutely: „Do the Mussolini (Headkick)“) hat dazu Maurice Ravels Klaviertriptychon „Gaspard de la nuit“ und den Reflex des Italieners Salvatore Sciarrino auf Ravel („De la nuit“) in seinen Klangteppich aufgenommen, die junge französische Pianistin Virginie Déjos nimmt da den Kampf gegen die letzten, in den ersten Lichtstrahlen vergehenden Gespenster auf, die ihre Nacht in der Energiezentrale der ehemaligen Zeche verbracht haben, unbemerkt und unbekannt.
Gegenwärtige Bruchlinien sollen in der ersten Ruhrtriennale unter der Intendanz der Schweizer Theaterregisseurin (und Schlagzeugerin) Barbara Frey befragt werden und das komplexe Verhältnis des Menschen zur Natur. Und da sie als eine ausgewiesene Kennerin von Nachtgewächsen und heimatlosen Kreaturen der gebannten Ängste gilt, passt auch ihre theatralische Reise mit einem achtköpfigen mehrsprachigen Ensemble und Livemusikern in den Gedankenkosmos von Edgar Allan Poe zum andauernden Versuch einer imaginären Vertreibung der ewigen Wiedergänger der Kohle- und Stahl-Ären des Ruhrgebiets. „Der Untergang des Hauses Usher“ ist die Kurzgeschichte des US-amerikanischen Meisters der dunklen Erzählung, in der physischer und seelischer Zerfall scheinbar auf beseelte Materie trifft und am Ende im Chaos versinkt. Hoffen wir dass dies nicht irgendwann mit der unaufhörlich absinkenden Region auch geschieht.
Die wichtigste Produktion in diesem Jahr? Schauen wir auf die Zukunft der Welt. Bei der Jungen Triennale kämpfen in „Paisajes para no colorear/Nicht auszumalende Landschaften“ neun Darstellerinnen aus Chile stellvertretend gegen die Gefahren, die das Frausein immer noch mit sich bringt. Originalzitat: „Wir mussten es ertragen, belästigt, begrabscht, angemacht, beleidigt, diskriminiert, verunglimpft, zusammengeschlagen, vergewaltigt, entführt, aufgespießt und ermordet zu werden, nur weil wir eine Vagina haben und Minderjährige sind.“ Eine unerträgliche Situation, die auch in Europa Gesellschaft und Politik mitträgt, machen wir uns da nichts vor. Prävention, Schutz und konsequente Strafverfolgung sind nicht selbstverständlich und waren es auch nie. Rund 35 Prozent der Frauen werden in Deutschland nach ihrem 15. Lebensjahr irgendwann Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt, sagt die Bundeszentrale für politische Bildung. „Paisajes para no colorear“ ist eine aufwühlende Melange aus stampfenden Rhythmen und den Geschichten der Performerinnen und aus Interviews mit über 100 weiteren chilenischen jungen Frauen. Voller Energie und mit ansteckender Wut werden die realen Geschichten von Diskriminierung und körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf der Bühne geschildert. Dabei bitten die neun jungen Menschen stellvertretend für die Hälfte der Menschheit auch um Unterstützung für längst überfällige Veränderungen. Doch diese maskulinen Geister sind nicht nur erbärmlich, sondern auch sehr mächtig.
Ruhrtriennale – Festival der Künste | 14.8. - 25.9. | Ruhrgebiet | www.ruhrtriennale.de
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