Fans der Hamburger Band Selig haben in den letzten Jahren einiges mitmachen müssen. Um dabei den Überblick zu behalten, hilft eigentlich nur eine Excel-Tabelle oder wahlweise ein Baumdiagramm: Im Frühjahr 2020 brachten Selig ein Jubiläumsalbum an den Start, auf dem Freunde und Wegbegleiter von Madsen über Johannes Oerding bis zu Benjamin von Stuckrad-Barre sich der Songs des selbstbetitelten Albumdebüts teilweise höchst eigenwillig, häufig aber nur ziemlich überflüssig, annahmen. Dann bekam Frontmann Jan Plewka das marketingtechnisch reizvolle Angebot, bei einer Staffel von „Sing meinen Song“ die Rolle des „Elder Statesman“ zu übernehmen und seine Karriere als Pop-Star in einen zweiten Frühling zu katapultieren. Das führte dazu, dass die ersten fünf Termine der Tour zum Album dem TV-Dreh geopfert wurden. Ironischerweise wären dies Termine gewesen, die Anfang März 2020 noch vor dem Corona-Lockdown hätten stattfinden können. Den Rest der Tour warf dann das Virus über den Haufen. Optimistisch für den Herbst angedachte Nachholtermine platzten und 2021 folgte dann mit „Myriaden“ ein neues Studio-Album. Die angedachte Tour mit Gästen wurde endgültig zu den Akten gelegt und die Myriaden-Tour angekündigt (Karten behielten ihre Gültigkeit), die jedoch auch mehrfach verschoben werden musste. Irgendwann fiel dann offenbar die Entscheidung, die Tour zum Album einfach sein zu lassen und mit einer Sommer-Tour 2022 wieder die Bühnen zu entern. So weit, so unübersichtlich.
Mit Wucht in die 90er
Mitte August 2022 ist es dann endlich soweit: Menschen mit Tickets für März 2020 mit dem Aufdruck „Selig macht selig“ und Menschen mit Tickets für Oktober 2021 im „Myriaden“-Design machen sich gleichermaßen auf den Weg in die Essener Zeche Carl. Fünfmal wurde der Termin verlegt, man prüft ungläubig, ob man nun wirklich das richtige Ticket eingesteckt hat. Der Gig in der Zeche Carl ist eigentlich seit 2020 ausverkauft, aber möglicherweise haben sich nicht alle Kartenbesitzer an den Termin erinnert, die Halle ist also nicht unangenehm voll. Es reicht allerdings aus, um die Thekenteams in Halle und Gastro komplett zu überfordern, so mancher steht noch durstig in der Getränkeschlange, als kurz nach 20 Uhr das Licht ausgeht und aus dem Off eine A-Capella-Version von „Imagine“ erklingt. Selig haben ihr Intro selbst eingesungen, eine Einstimmung auf einen Konzertabend, der zwar nicht in Love & Peace-Zeiten führt, aber mit Wucht in die 1990er Jahre katapultiert: Den weitaus größten Anteil an der 18 Stücke umfassenden Setlist haben Songs des Debüts (sieben Songs) und der Folgeplatte „hier“ (vier Songs). Wuchtige Bretter wie „Sie hat geschrien“, „Wenn ich wollte“, „Das Mädchen auf dem Dach“ oder „Lass mich rein“ werden vom Publikum dankbar und frenetisch aufgenommen, aber auch die Ballade „Ohne Dich“ („unser Purple Rain“, wie Plewka anmoderiert, ohne dass dieser Vergleich vermessen wirkt) wird textsicher aus hunderten Kehlen begleitet.
Zurück zum Grunge
Die „Myriaden“-Platte wird mit dem gefälligen Titelstück kurz und pflichtschuldig abgehandelt, dann geht es auch schon wieder zu den eher grungigen Wurzeln der Band zurück. An diesem Abend wird die Verheißung von 2020 wahr: Selig macht selig! Und zwar nicht nur die Fans, auch die Musiker. Allen vieren steht Freude und Dankbarkeit ins Gesicht geschrieben, wieder vor Publikum auftreten zu können. Natürlich spielt man mit den üblichen Rockklischees, natürlich ist das Essener Publikum „das beste“, aber an diesem Abend, jetzt und hier, ist diese Aussage absolut wahr. Die Menge lässt den Chorus von „Die Besten“ auch nach dem Ende des Songs nicht verklingen, minutenlang schallt es uuuh! und yeah! durch die ehemalige Kaue. Die Band greift die Publikumsgesänge jammend wieder auf, das Spiel soll sich im Laufe des Abends noch mehrfach bei anderen Songs wiederholen. Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten wird ausgiebig zelebriert, Jan Plewka verliert sich in ausufernden Ansagen, um zu dem Schluss zu kommen: „Das ist wie in den 90ern – nur geiler!“ Und wo er Recht hat, hat er Recht. Nicht nur wegen der hochsommerlichen Temperaturen ist dieser Abend ein schweißtreibendes und euphorisierendes Erlebnis, das nach rund zwei Stunden mit dem besinnlichen „Regenbogenleicht“ endet.
Ende am See
Die fast unzähligen Terminverschiebungen haben dazu geführt, dass zwei Konzerte in Nachbarstädten direkt aufeinander folgen. Nur einen Tag nach dem Saunagang in Essen beehren Selig das Zeltfestival Ruhr (ZFR) am Ufer des Kemnader Sees an der Stadtgrenze zwischen Bochum und Witten. Es ist der erste Festivaltag nach der zweijährigen Zwangspause und an diesem Sommerabend schieben sich die Mengen über den „Markt der Möglichkeiten“ zwischen Kinkerlitzchen und Whirlpools und laben sich am Angebot der Gastromeile. Im großen Sparkassen-Zelt eröffnen die Fantastischen Vier das Festival, für Selig im Stadtwerke-Zelt ist der Beginn auf 20.30 Uhr angekündigt. Wer das ZFR und seine Regeln kennt, ahnt, dass dieser spätere Beginn einen Haken hat – schließlich muss am See um 22 Uhr die Live-Musik enden. Und tatsächlich: Auf „Myriaden“ wird diesmal gleich ganz verzichtet – was der Großteil der Fans der ersten Stunde nicht groß vermissen dürfte. Aber mit „Feuer und Wasser“ und vor allem „Bruderlos“, das in Essen in einer extended Version zu den Highlights des Abends zählte, ist die Setlist um zwei weitere Stücke ärmer. Und bevor das Publikum nach den einschlägigen Stücken in ausufernde Gesänge einstimmen kann, wird auch schon der nächste Song angespielt. Schließlich geht das alles von der gemeinsamen Zeit ab. Auch Plewkas Ansagen sind um einiges sparsamer. Doch das sind alles nur Beobachtungen, die diejenigen machen können, die in Essen (oder bei einem der anderen Clubgigs davor) dabei waren. Für alle, die nicht wissen, dass ihnen hier nur eine Listener’s-Digest-Version des ursprünglichen Konzertgenusses geboten wird, ist auch der Gig beim ZFR ein Erlebnis. Wenn es kurz vor dem Ende heißt „Wir werden uns wiedersehen“, dann stimmt wohl jeder mit Inbrunst in den Refrain ein.
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