Ein Wort geht Gregor Gysi an diesem Abend besonders oft über die Lippen: ändern – die Europäische Union, das Bildungssystem, die Außenpolitik. „Wir haben so viel zu tun. Ich weiß gar nicht, wo man anfangen soll“, stöhnt der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken. Schnell poltert er im Veranstaltungssaal der Zeche Carl los. Gegen die Politik der Großen Koalition: „Noch nie gab es so eine Überforderungssituation wie gegenwärtig“. Gegen AfD, Front National und Co.: „Wenn Le Pen gewählt wird, dann ist die EU mausetot!“ Oder gegen das ungerechte Schulsystem: „Das ist nichts anderes als soziale Ausgrenzung.“ Alle Kritik nicht ohne die große Forderung, nachzulegen: „Es muss einen großen sozialen Schub in Deutschland geben und der muss auch deutlich sein.“
Ist das nun populistischer Wahlkampf? Nein! Der Linken-Politiker, der im vergangenen Jahr vom Fraktionsvorsitz zurückgetreten ist, hatte sich nur warm geredet. Und das Problem mit der überschrittenen Redezeit kenne man ja bereits aus seinen Bundestagsansprachen.
Plötzlich SED-Vorsitzender
Eigentlich war er gekommen, um über den Rückblick zu sprechen, den er nach dem Rücktritt geschrieben hat: „Ausstieg links? Eine Bilanz“. So passte es auch ins Programm eines Literaturfestivals: Denn die 25 Jahre der Deutschen Einheit hat Gysi wie kaum ein anderer mitgeprägt. So hatte er auch einige Anekdoten zu erzählen – etwa über den Beginn seiner Politikkarriere. Denn die war alles andere als früh eingeplant: Als der Anwalt am 4. November 1989 Funktionäre juristisch berät, wird er gefragt, ob er in der SED mitmachen will. Gysi ist zögerlich und skeptisch, macht aber erst mal mit. Als im Dezember 1989 ein neuer Vorsitzender gesucht wird, hat keiner so wirklich Lust auf die Führungsposition in der Sozialistischen Einheitspartei. Dann wird Gysi gefragt. „In der schwächsten Sekunde meines Lebens habe ich Ja gesagt“, so der Anwalt rückblickend. Später ging es bekanntlich als Vorsitzender in der PDS und nach der Fusion mit der WASG in der Linken weiter.
Ja-Sager
Und auch dieser Job sei in der DDR etwas besonderes gewesen. „Es gab 600 Anwälte – die haben sie heute in Essen in einer Straße.“ Auch wenn der Anwaltsberuf in der DDR nicht angesehen war, so brachte er in der Diktatur einen Vorteil: „Man konnte, ja musste reden.“ So verteidigte er auch Dissidenten wie Rudolf Bahro. „Den schönsten Prozess hatte ich mit Frank Castorf“, erinnert sich Gysi. Der Theaterregisseur und Intendant wurde wegen eines systemkritischen Theaterstückes von der SED-Führung angeklagt. Am Ende wurde er freigesprochen und in ein mecklenburgisches Provinztheater verbannt. Die Leute kamen trotzdem zu den Aufführungen.
Mit seinem Rücktritt wollte der 68-Jährige eigentlich kürzer treten. Mehr Zeit für Familie und Freunde. So ganz klappt das nicht. „Ich will ein politisch wahrnehmbarer Mensch sein und gebe auch ungefragt politisch Ratschläge.“ Er könne nicht Nein sagen, wenn es um Termine geht. So wie an diesem Abend. Das habe auch vielen Freundschaften am Ende geschadet. Eine schöne Schlusspointe – nicht über den Politiker, sondern den Menschen Gysi. Ein Ja-Sager, der über Freundschaft philosophiert. Und dann? Dann war die Redezeit vorbei.
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