Wenn man den aktuellen Konzertkalender der Zeche Bochum betrachtet, vergisst man leicht, dass es Zeiten gab, in denen sich die großen Stars hier die Klinke in die Hand gaben und nicht deren Tribute- und Coverbands. In den 1980er und 90er Jahren war dieser Ort zudem eine zentrale Location der Metalszene. Und so hat es auch die brasilianische Metal-Combo Sepultura schon 1989 an die Bochumer Prinz-Regent-Straße verschlagen (damaliger Support: Sodom). Wenn die Band sich, zufrieden über die tobende Menge blickend, mit einem „good to be back here“ ans Publikum wendet, blickt man auf eine gemeinsame Zeitspanne von mittlerweile drei Jahrzehnten zurück, in denen Sepultura bereits zum fünften Mal hier aufspielt – wobei: Für alle Musiker auf der Bühne gilt das nicht.
Doppelter Support
Doch bevor die Brasilianer die Bühne entern, gilt es zunächst, die Support-Bands in Augenschein zu nehmen. Möglicherweise wegen ihres vergleichsweise kurzen eigenen Sets von rund 80 Minuten haben Sepultura gleich zwei Acts im Gepäck. Den Beginn machen Extinction A.D. aus Long Island (in der Ankündigung steht lediglich Extinction – ein Bandname, der in der Szene alles andere als originell ist, weswegen man auch Metal aus Colorado, Kalifornien oder Italien hätte erwarten können). Bei hochsommerlichen Temperaturen ist der Biergarten der Zeche noch gut gefüllt und die Menge in der Halle ist noch überschaubar. Dennoch schaffen es Extinction A.D. mit einem kraftvollen und energiegeladenen Set, die Stimmung anzuheizen und einen ansehnlichen Moshpit zu aktivieren. Dieth hingegen sind Newcomer mit Geschichte: Dave Ellefson, einst Gründungsmitglied von Megadeth, hat nach seiner Trennung von den Thrash-Veteranen 2021 ein neues Bandprojekt gegründet. Mit von der Partie sind u.a. Guilherme Miranda von Entombed A.D. und Michał Łysejko von Decapitated. Die Halle füllt sich stetig, der straighte Death-Metal geht gut nach vorne los, Guiherme Miranda ist ein überzeugender Shouter, der das Publikum direkt in seinen Bann zieht. Sogar eine Ballade hat die Band im Gepäck. Allerdings übernimmt bei „Walk with me forever“ Bassist Ellefson den Gesangspart. Was auf dem Album zu überzeugen weiß, klingt live leider nicht rund. Ellefsons Gesang klingt live wie schlechtes Karaoke. Schade, denn musikalisch punktet Dieth mit Abwechslung und filigranem Spiel.
Ausgelaugt, glücklich
Nach einer weiteren kurzen Umbaupause wird es dann ernst. In der Halle wird es angesichts der herrschenden Temperaturen so langsam kuschelig und aus den Boxen tönt „Policia“ der brasilianischen Punkband Titãs, das klassische Intro einer Sepultura-Show. Kurz darauf geht es dann los mit „Isolation“ einem Titel des 2020er Albums „Quadra“, das pandemiebedingt erst verspätet im Mittelpunkt einer Tour steht. Sänger Derrick Green hat das Publikum von Beginn an auf seiner Seite. Das ist, wenn man die Geschichte der Band kennt, keine Selbstverständlichkeit: Die Frühzeit der Band wurde stark von Max Cavalera geprägt, der Sepultura 1996 im Streit verließ und Soulfly gründete. Wenn man bedenkt, dass Brian Johnson nach nunmehr über 40 Jahren als Frontman bei AC/DC immer noch als „der Neue“ gilt, weiß man, dass das Hard & Heavy-Publikum bei Sängerwechseln gerne fremdelt. Doch Derrick Green hat sich im Laufe der Jahre in die Ohren und Herzen der Fans gesungen und geschrien. Seine Bühnenpräsenz rührt nicht nur von seiner beachtlichen Größe her, sondern auch von einem durchweg sympathischen Auftreten. Mit dem Ausstieg von Schlagzeuger und Percussionist Igor Cavalera 2006 sind die Weltmusik-Einflüsse im Sound von Sepultura etwas zurückgegangen, doch sie bleiben weiterhin Bestandteil. So fügen sich die roh-aggressiven Songs von „Quadra“ wunderbar in die Reihe der Klassiker ein, die von den Fans frenetisch gefeiert werden. Davon, dass der Jubel bei der Ankündigung von rund 30 Jahre alten Songs zunächst größer ist als bei den neueren, lässt sich die Band nicht beirren – und genau damit schaffen sie die große musikalische Einheit des Sets. Nach etwas mehr als einer Stunde schweißtreibenden Metals verabschiedet sich die Band, um kurz darauf den schon traditionellen Abschluss mit „Rattamahatta“ und dem unsterblichen Hammer „Roots Bloody Roots“ den Hexenkessel noch einmal abschließend gehörig unter Dampf zu setzen. Ein triefend nass geschwitzter Derrick Green verabschiedet die ausgelaugten, aber glücklichen Fans mit einem fürsorglichen „Schlaft gut!“ in die Nacht.
Nostalgie und Gegenwart
Die wendungsreiche Bandhistorie bringt es mit sich, dass unter den Anhängern zum Teil heftige Diskussionen geführt werden, ob nun Sepultura in ihrer aktuellen Besetzung, Soulfly oder ein anderes Projekt der Cavalera-Brüder würdig ist, als das wahre Erbe der Ursprungs-Sepultura zu gelten. 2016 feierten die Cavaleras 20 Jahre „Roots Bloody Roots“, indem sie das komplette Album auf die Bühne brachten. Das war unter anderem in der Kölner Essigfabrik ein Nostalgietrip erster Güte in die 1990er. Trotz spielerischer Perfektion fehlte dem damaligen Konzert aber das gewisse Etwas. Sepultura hingegen, die eine Weile in der Szene mitleidig als „verbliebene Rumpfband“ tituliert wurden, obwohl mit dem begnadeten Gitarristen Andreas Kisser und dem Bassisten Paulo Jr. auch in dieser Formation zwei Mitglieder aus der 1980er-Jahren das Erbe fortführen, schaffen den Brückenschlag zwischen Nostalgie und Gegenwart, setzen die Energie der Songs in eine lebendige und nahbare Show um. See you soon!
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