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Foto: Emma Vesper

Mehr Wut, bitte!

14. Mai 2024

Wilhelmine begeisterte in Bochum – Musik 05/24

Gefühlt sind es 98 Prozent Frauen, die an diesem Abend den Bahnhof Langendreer bevölkern: Die Berliner Musikerin Wilhelmine lebt offen lesbisch, erzählt in ihren Texten von den Hürden und Ängsten, mit denen das Bekenntnis zu queerer Liebe immer noch verbunden ist – und natürlich spiegelt sich dies auch in ihrem Publikum. Doch wenn Sie singt „Komm wie du bist / Und bring alles an dir mit / Komm wie du bist / Hier ist Platz für dich“, dann schließt das ausdrücklich auch die Männer ein, die den Weg in den Bochumer Osten gefunden haben.

Zum Beginn des Abends allerdings gehört die Bühne der Newcomerin Iuma. Die Kölnerin ist eingesprungen für Mele, die eigentlich Wilhelmines Tour begleitet. Sie fragt das Publikum gleich zu Beginn, ob es eher Beats oder Besinnliches hören wolle – und weil die Befragung kein eindeutiges Ergebnis bringt, präsentiert sie eine bunte Mischung aus tanzbaren Songs und eher gefühlvollen Stücken. Sie präsentiert sich selbstbewusst und frech, ihre Texte sind bisweilen aber auch arg plakativ und lassen Tiefgang vermissen (z.B. „Pussy“ oder „Sexist“). Die Stimmung im Saal vermag sie damit allerdings gut anzuheizen und sie bewegt das Publikum zum Mitsingen. Mit dem musikalisch sehr ruhig-harmonischen „Schau zu wie es brennt“ serviert sie schließlich auch einen durchaus doppelbödig-tiefgründigen Text.

Wilhelmines Auftritt wird eingeleitet von Schlagzeug und Gitarre und schon hier deutet sich an, dass die Songs, die im Studio doch bisweilen etwas sehr glatt und gefällig radiotauglich produziert sind, live direkter und rauer präsentiert werden. Mit „nie wieder wegrennen“, einer soliden Uptempo-Nummer, die von gefundenem Selbstbewusstsein erzählt, zeigt sich Wilhelmine als grinsendes Energiebündel, das den ganzen Saal mühelos um den kleinen Finger wickelt. Das aktuelle Album der Sängerin ist gerade erst ein paar Tage alt, doch egal, ob es sich um alte oder neue Songs handelt: Ein vielstimmiger Chor begleitet sie textsicher durch jeden einzelnen.

Mittelfinger an den Wahnsinn

Schnell wird klar, dass dieser Abend für Viele einen safe Space bietet, der gerne angenommen wird. Die Stimmung ist ausgelassen und spätestens bei „An die Freude“, einem Song mit Mittelfinger- Attitüde („Lass mal wieder freun, auch wenn wir am Arsch sind / Es ist noch nicht vorbei, Mittelfinger an den Wahnsinn“), stimmt der gesamte Saal mit ein. Doch auch ernste Stücke finden sich in der Setlist. In „Ich krieg keine Luft“ singt sie von sozialen Ängsten und dem Gefühl, daran zu ersticken und ist dabei tief in der Stimmung des Songs gefangen. Sie steht bei diesem Titel vom Publikum abgewandt, vermeidet den Blickkontakt und schafft so auch eine bildliche Ebene dafür, dass eine Person, die nur Sekunden zuvor ausgelassene Freude ausstrahlte, im nächsten Augenblick von Ängsten überwältigt sein kann: Depressionen verbergen sich oft hinter lächelnden Gesichtern. Nach diesem unglaublich intensiven Moment geht Wilhelmine seitlich von der Bühne ab, gibt es eine kurze Atempause für sie und ihre Fans.

Tanz auf der Bierkiste

Was bei großen Rock- oder Pop-Acts zuweilen mit technischen Effekten und anderem zelebriert wird, kommt bei Wilhelmine ganz unspektakulär daher: Der Ortswechsel auf eine zweite Bühne. Eine Halle von der Größe des Bahnhof Langendreer bietet keinen Raum für aufwändige Aufbauten, der 1,62 m kleinen Sängerin reicht ein umgedrehter Bierkasten in der Hallenmitte, um alle Blicke (und Ohren) auf sich zu ziehen. Ihre Mitmusiker bleiben auf der Bühne, rücken so auch optisch in den Hintergrund, Wilhelmine ist eindeutig das Zentrum dieses Abends. Zur Ballade „Eins sein“ dirigiert sie den Publikumschor von einem Gänsehautmoment zum nächsten. Es folgt „Rosalind“, der Biochemikerin Rosalind Franklin gewidmet, die zwar maßgeblich die Erforschung der DNA vorangebracht hat, allerdings im Gegensatz zu ihren männlichen Mit-Doktoranden hierfür keinen Nobelpreis erhielt. „Solange du dich bewegst“ wiederum ist eine Ode an die Selbstliebe, eine mutmachende Selbstbestätigung, mit der es dann auch wieder auf die große Bühne zurückgeht und die besinnlichen Momente wieder ausgelassener Partystimmung Platz machen. Bei „schwarzer Renault“, einem trotzigen Trennungsschmerz-Song, in dem der Anblick eines Autos Erinnerungen weckt, stachelt sie das Publikum beim Singen des Refrains („wieso fährt jeder hier nen schwarzen Renault?“) auf: „noch einmal, noch wütender!“ – und ihr Wunsch wird mit Freude erfüllt.

Warum ist meine Liebe deiner Rede wert?

In ihren Ansagen ist Wilhelmine nahbar, erzählt von wechselnden Bezugspersonen in Kindheit und Jugend, von Umzügen und Entwurzelung – aber auch von Menschen, die für sie ungeheuer wichtig waren. Ihnen widmet sie Lieder: „Mein Bestes“ für ihre Ziehmutter, „Paula“ für ihre beste Freundin. Natürlich fehlen auch die kämpferisch-hymnischen Songs „Meine Liebe“ („warum ist meine Liebe deiner Rede wert?“) und „viele“ nicht. Selbst in den Liedern, in denen Wilhelmine Outing und Homophobie thematisiert, findet sie sehr persönliche Zugänge. Es geht ihr nicht vorrangig darum, von lesbischer Liebe zu singen, sondern in erster Linie um den Ausdruck von Gefühlen, Ängsten und Begierden. Dass die geliebte Person weiblich ist, ist letztlich nur ein Detail, weshalb die Texte auch außerhalb jeglicher Community-Zugehörigkeit bestehen können. Dass vom Formatradio Reißbrett-Songs von Mark Forster, Clueso und Konsorten vorgezogen werden, ist schade. Am 11. August ist Wilhelmine Open Air im Junkyard Dortmund zu erleben.

Frank Schorneck

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