Sie haben ihren ersten gemeinsamen Song vor vier Jahren geschrieben und bislang erst zwei EPs veröffentlicht – doch sie lassen live keine Zweifel daran, dass sie das Potential zum ganz großen Act haben: LEAP aus Großbritannien (und Südafrika) bringen aktuell die Clubs auf dem europäischen Festland zum Beben und Tanzen. Ihr erster Deutschland-Auftritt fand im März 2023 beim Crossroads-Festival des Rockpalast statt und kann in der WDR-Mediathek abgerufen werden. Schon dieser Auftritt kommt sehr selbstbewusst daher für das noch sehr jugendlich wirkende Quartett. Frontmann Jack Balfour Scott ist allerdings alles andere als ein Neuling: Er war bereits von 2013-2016 Sänger einer vielversprechenden Band: The Mispers standen für Alternative Rock mit starkem Geigeneinfluss und in dem Ruf einer exzessiven Live-Präsenz, haben sich aber vor dem vorhergesagten großen Durchbruch getrennt. Nun also startet Scott mit LEAP das „next big thing“.
Startschwierigkeiten
An diesem verregneten Dortmunder Mittwoch im April gibt es einige Startschwierigkeiten: Kurz vor dem eigentlichen Einlass postet die Band auf ihren Social Media-Accounts, dass sich ihre Anfahrt verzögert habe und sie noch beim Soundcheck sei, weshalb der Einlass verschoben werden muss. So steht dann auch der Support-Act erst eine halbe Stunde später als geplant auf der Junkyard-Bühne. Sich als Vorband ein gefühlt mehrminütiges sphärisches Intro zu leisten, zeugt zwar von Selbstbewusstsein, weckt jedoch auch Erwartungen, die HIMITZU letztlich nicht erfüllen können. Dass fast unmittelbar nach dem Intro die Technik zunächst versagt, dafür können die Vier nichts und sie gehen mit der Panne auch ganz sympathisch um, aber so richtig weiß ihr Synth-Pop nicht zu überzeugen. Die Stimme von Frontfrau Marisa klingt eher dünn als dark und wir schreiben das mal wohlwollend dem Sound zu. Der weitaus größte Teil des Publikums empfängt die Band aus dem Siegerland freundlich, einige sind mit den Songs der Newcomer bereits vertraut.
Gute Laune im Moshpit
Viel unprätentiöser als ihre Opener gehen dann LEAP zu Werk. Einen ersten Auftrittsapplaus kassieren sie, als sie völlig un-rockstarlike noch einmal selbst ihre Effektpedale und Mikrofonständer zurechtrücken und kurz den Sound checken. Wenn man mit geringem Budget unterwegs ist und der Haupt-Roadie zugleich Merchverkäufer, Kameramann (und möglicherweise auch Tourbusfahrer) ist, muss man als Musiker auch noch selbst Hand anlegen. Schon jetzt werden den Musikern aus dem Publikum heraus Rosen überreicht und Scott findet die Zeit, mit der jungen Frau in der ersten Reihe ein paar Worte zu wechseln. Nochmal kurz runter von der Bühne und dann geht es mit „Power Trip“ umgehend in die Vollen. Jack Balfour Scott und seine Mitstreiter (Adam Mason an der Gitarre, Declan Brown am Bass und Hector Cottam an den Drums) sind innerhalb von Sekundenbruchteilen von Null auf Hundert und das Publikum zieht direkt mit. Ausgelassene Partystimmung füllt die restlos ausverkaufte Halle bis in die hintersten Reihen. Mit seiner Sonnenbrille weckt Scott kurz unschöne Noel Gallagher-Assoziationen beim Verfasser dieser Zeilen. Doch statt Coolness und Distanz zu zelebrieren, geht der Sänger direkt auf Tuchfühlung mit den Fans. Er beweist überragende Frontman-Qualitäten, bezieht die „beautiful people“ im Dortmunder Publikum immer wieder aktiv ein. Direkt als zweiten Song legen LEAP „One Million Pieces“ nach, eine Nummer mit Hitpotential, die sich andere Bands möglicherweise für die Zugabe aufbewahrt hätten. Als Scott dazu animiert, einen Moshpit zu bilden, lassen sich die Fans nicht lange bitten. Der an Metal-Konzerten geschulte Beobachter mag über die Bezeichnung Moshpit milde lächeln, aber der gutgelaunte Tumult inmitten der Halle ist dafür nahezu über die gesamte Konzertlänge langlebig und beständig, Scott taucht mehrmals mit seinem Mikro mitten in das Geschehen ein. Auch seinen Mitmusikern steht die Spielfreude in die grinsenden Gesichter geschrieben.
In den insgesamt rund 70 Konzertminuten kündigt Scott immer mal wieder an, das Tempo ein wenig zu drosseln, doch wirkliche Ruhemomente gibt es kaum. Scott erzählt von seiner bipolaren Störung und wie er diese in seinen Songs verarbeitet, zeigt mit einem kämpferischen „Fuck being normal!“ aber auch, wie selbstbewusst er mit der Krankheit umgeht. Immer wieder schnappt er sich aus den vorderen Reihen eines der ihn filmenden Handys und schwenkt es über Bühne und Publikum. Er weiß genau um die Bedeutung und Macht der Bildwelten auf Social Media. Das zeigt sich auch an der Tatsache, dass das gesamte Konzert durchgehend professionell gefilmt und fotografiert wird. Dass ständig mindestens ein Fotograf mit den Musikern auf der Bühne steht, wirkt etwas befremdlich, gerät aber bei der Energie, die die Band ausstrahlt, schnell in Vergessenheit. Zwei noch unveröffentlichte neue Songs, „Calling“ und „Vision of you“ werden mit Begeisterung vom Publikum aufgenommen.
Familientreffen
Als das Konzert endet, bildet sich eine lange Schlange am Merch-Stand, die von dem einzigen Mitarbeiter nur sehr langsam abgearbeitet werden kann. Sicherlich hätten LEAP noch einige Shirts mehr verkaufen können, aber es ist Mittwoch und so mancher Besucher muss am nächsten Tag zur Arbeit. Wer aber nicht direkt in die Dortmunder Nacht verschwindet, kann noch in den Genuss einer extrem kontakt- und kommunikationsfreudigen Band kommen. Alle Bandmitglieder mischen sich unter die wartenden Fans. Selbstverständlich signieren sie alles, was ihnen hingehalten wird, aber sie führen auch Smalltalk, suchen selbst das Gespräch, so dass es in der Halle plötzlich sehr familiär zugeht. Dass die „Familienfotos“ dann wieder auf Social Media verbreitet werden, ist dabei natürlich einkalkuliert. Doch solange die musikalischen Qualitäten dem Grad der Selbstvermarktung nicht nachstehen, darf eine Band wie LEAP die Marketing-Klaviatur gerne so virtuos weiterbedienen.
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