Für die Metal-Gemeinde im Ruhrgebiet war es ein Schlag in die Magengrube, als Peter Siewert, der Mann hinter dem Rock-Club turock in Essen, im Sommer verkündete, dass die vierzehnte Ausgabe des schon traditionellen turock-Festivals nicht wie gewohnt stattfinden würde. Statt im Sommer open air und bei freiem Eintritt auf dem Viehofer Platz sollte das Festival nicht nur in den Herbst, sondern auch in eine Halle ziehen – und dann noch in die Nachbarstadt Bochum. Zum ersten Mal sollte das zweitägige Festival nun Eintritt kosten. Siewert macht die allgemeine Kostensteigerung für diese einschneidenden Änderungen verantwortlich: Auch wenn in den letzten Jahren (abgesehen von der Corona-Pause) rund 30.000 Kuttenträger nach Essen pilgerten, sah Siewert unter seiner diesjährigen Kalkulation einen erwartbaren sechsstelligen Verlust. Und auch das nur bei schönem Wetter.
Der Umzug nach Bochum wiederum lag nahe, denn seit 2022 hat das turock-Team einen Catering-Vertrag mit dem Ruhr Congress. Wer sich erinnert, wie schwer es zuvor in der Halle war, innerhalb von Veranstaltungspausen in den Genuss eines Kaltgetränks zu kommen, weiß diese Kooperation zu schätzen. Und Siewert wurden im Gegenzug gute Konditionen für sein Festival der härteren Gangart geboten. Aber funktioniert ein Metal-Festival in dem eher sterilen Mehrzweckbau? Und kommt das neue Konzept bei den Rockfans an?
Unter der Flagge des Punk
Wer sich am ersten Festivaltag auf den Weg macht, kann über diese Frage ins Grübeln kommen. Allzu deutlich kann man sehen, dass die Zuschauerzahl weit unter den möglichen Kapazitäten liegt. Gerade im großen Saal ist es doch sehr luftig. Nun ja, an einem Freitagnachmittag ab 15 Uhr auf einem Festival zu sein, das muss man auch erstmal mit Arbeit und Anreise in Einklang bringen. Und zu allem Überfluss hat dann auch noch der VfL Bochum nur einen Moshpit entfernt ein Heimspiel. Dem Line-Up wird es hingegen weniger geschuldet sein, denn das bietet auch schon am Freitag klingende Namen und spannende Newcomer auf. Die Nachmittage gehören der Deutschen Szene aus Krefeld, Erfurt, Duisburg, Hamburg oder Gelsenkirchen. Das Spektrum reicht vom Newcomer bis hin zu gestandenen Größen durch nahezu sämtliche Subgenres der vielfältigen Metal-Szene. Die Bands des ersten Abends segeln dann musikalisch eher unter der Flagge des Punk. Da sind die Kalifornier Ten Foot Pole (seit 40 Jahren im Geschäft) oder die Schweden No Fun At All (zwischen 1991 und heute mehrfach aufgelöst und wieder neu gegründet) und als Headliner die Nordiren Therapy?, die 1994 mit „Troublegum“ ein Hitalbum der Alternative-Szene vorlegten und Gast der ganz großen Festivals wurden. Pech mit den Plattenfirmen bremste dann abrupt den Erfolg. Doch die Band hat kontinuierlich solide Rockalben veröffentlicht und sich einen hervorragenden Ruf als Live-Band erspielt. Mit dem noch frischen Album „Hard Cold Fire“ beweist das Trio, dass es noch lange nicht zum alten Eisen zählt. Einige Rockmagazine zählen die Scheibe zu den wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres. Im Ruhr Congress allerdings gibt es ein Festival-Set, das nur eine Handvoll neuer Songs bietet und ansonsten auf die Hits wie „Nowhere“, „Isolation“ oder „Die Laughing“ setzt. Die große Spielfreude überträgt sich auch auf das Publikum und es interessiert vor der Bühne schon lange niemanden mehr, dass die große Halle des Ruhr Congress höchstens zu einem Drittel gefüllt ist. Großen Spaß bereiten auf der kleinen Bühne die Essener/Bottroper König Kobra (nicht zu verwechseln mit der amerikanischen Hardrock-Combo King Kobra) mit zweistimmigem Gesang und eindeutigen politischen Aussagen zu blaubraunem Gesocks.
Metal-Familienfest
Es ist logistisch gar nicht möglich, alle sage und schreibe 36 Bands des Wochenendes zu sehen: Der Ruhr Congress ermöglicht es, dass die Konzerte in beiden Hallen zwar leicht zeitversetzt, aber dennoch überschneidend stattfinden können, ohne dass sie einander akustisch stören. So kann sich, wer offen für Neuentdeckungen ist, einfach am Bierstand vorbei von einer Bühne zur anderen treiben lassen, in ein paar Takte reinhören und entscheiden, zu bleiben oder doch den Ort wieder zu wechseln. Neben den beiden Bühnen gibt es noch eine überschaubare Metal-Börse mit CDs, Vinyl und Klamotten, einen Ausstellungsbereich und natürlich Merchandise von fast allen auftretenden Bands. Die Stimmung ist entspannt, die Security und das gesamte „turock“-Personal sind freundlich und kooperativ und so hat das Wochenende etwas von einem Familientreffen. Heavy Metal hat schon lange sein Böse-Buben-Image hinter sich gelassen, das „turock“-Fest bietet sogar freien Eintritt für Kinder unter 12 Jahren. Dennoch sieht man weit weniger Nachwuchs als zum Beispiel bei Iron Maiden- oder Metallica-Konzerten in den letzten Jahren. Einziger Minuspunkt der Veranstaltung ist das kulinarische Angebot. Das erschöpft sich in einem Döner-/Falafelwagen draußen und einem Mini-Pizzastand (kleiner Stand, kleine Happen) drinnen. Das führt natürlich dazu, dass das Gelände von nicht wenigen zwischendurch zur Nahrungsaufnahme verlassen wird.
Bunter Hair-Metal-Topf
Am Samstag wird es metallischer, die Punk-Einflüsse sind verklungen. Es gilt: Je unlesbarer der Schriftzug der Band, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Gesichter weiß geschminkt und die Texte umso schwärzer sind. Doch auch Überraschendes ist zu hören – beispielsweise, wenn Saint Serpent aus Wesel in ihrem Stoner-Rock growlige Reibeisenstimme mit bluesiger Mundharmonika mischen. Die größte Überraschung des Abends dürfte jedoch der Gig von John Diva and the Rockets of Love sein: Die knalligen Farben auf der Bühne tun fast schon in den Augen weh, das Outfit der Musiker ist extrem grenzwertig. Hier ist sehr offensichtlich jemand in den Hair-Metal-Topf gefallen und lässt die 1980er auch klamottenmäßig aufleben. Zwischen Mötley Crue und Bon Jovi nimmt der Glam-Rock-Runaway-Train Fahrt auf und während man sich noch fragt, ob das nun eine Persiflage oder ernst gemeint ist, singt man auch schon mit. Und dieses Phänomen lässt sich bis in die erste Reihe am Absperrgitter wahrnehmen: Da mag noch so groß „Slayer“, „Death“ oder „Cannibal Corpse“ auf der Kutte stehen, hier wird gut gelaunt gefeiert und auch wer sonst blutrünstige Texte grölt, stimmt grinsend ein in Refrains wie „Everybody needs something, something to believe in / Everybody needs someone to take your clouds away“ ein.
Kurz darauf machen die Bonbonfarben auf der Bühne Platz für legendären Thrash-Metal aus Phoenix, Arizona. Sacred Reich, die erst kurz vor Corona nach langer Zeit wieder neues Material veröffentlicht haben, knüppeln sich durch alte und neue Songs, dass es eine Freude ist. Beachtlich bei der Härte der Musik sind die zurückhaltenden Ansagen von Phil Rind, der stets aufs neue versichert, wie glücklich er sich schätzen kann, mit der Musik seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Er ist praktizierender Buddhist und hat die demütige Haltung offenbar sehr verinnerlicht. Musikalisch hingegen ist die Band von innerer Ruhe weit entfernt.
San Francisco – Gelsenkirchen
Eine weitere Thrash-Institution sind Death Angel aus der San Francisco Bay Area, die ebenfalls einen sehr soliden Spagat zwischen 1980er und neuem Material abliefern. Den Schlusspunkt im großen Saal dürfen allerdings die Gelsenkirchener Sodom setzen, die neben Kreator und Destruction zu den großen Aushängeschildern des German Thrash zählen. Im kleineren Rahmen wird dann noch in der oberen Halle bis kurz nach 1 Uhr weitergeknüppelt, bis die letzten Metaller erschöpft, aber glücklich, den Heimweg antreten. Das selbst gesteckte Ziel von 10.000 Besuchern hat das Festival bei weitem nicht erreicht, doch insgesamt zeigt sich Macher Siewert sehr zufrieden mit dem Einstand und stellt in Aussicht, das turock-Fest in Bochum etablieren zu wollen. Sehr solide Grundsteine sind hierfür in diesem Jahr gelegt worden und man darf schon jetzt gespannt sein auf das, was 2024 kommen wird.
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