Seit das Fernsehen dem Kino in den fünfziger Jahren das Wasser und mehrere hundert Millionen Besucher abgrub, wurde der deutsche Film als Sorgenkind behandelt. Zunächst wehrten sich die Produzenten und Filmverleiher gegen veränderte Sehgewohnheiten mit Krimi-, Sexfilm- und Komödienserien, während das Oberhausener Manifest im Zuge der französischen Nouvelle Vague vehement für ein neues Kino abseits der verlogenen Wirtschaftswundertraumwelten eintrat, „Papas Kino“ also vor allem inhaltlich ans Leder wollte. Das „Neue Deutsche Kino“ wurde in den siebziger Jahren zum Gegenentwurf der Kinocenter-Kultur und unterstrich die Wichtigkeit einer funktionierender Programmkino- und Filmkunstlandschaft, die Filme auch inhaltlich und über Wochen, mit Themenfestivals, Filmnächten und Diskussionen vorführte.
Schiene und Festival
Das Kinofest Lünen wagt seit einem Vierteljahrhundert den Spagat zwischen dem deutschen Mainstream- und Filmkunstkino und findet dazu passenderweise in einem „Multiplex“, der Cineworld Lünen, statt. Was kein Widerspruch ist. Ein Blick auf die normalen Wochenprogramme zeigt, dass mittlerweile auch die Multiplexe zu Programmkinos in dem Sinne geworden sind, dass sie in der überwiegenden Zahl ihrer Säle Schienenprogramme fahren. Nachmittags gibt es Kinderfilme, um 17 Uhr Mittelware ab 12 Jahren, danach Thriller, die nachmittags zu wenig Publikum finden, spätabends Hardcore-Horror oder die wirklich allerletzte Prolongationswoche älterer Hits. Nur noch nagelneue Blockbuster haben einen, oder dann gerne auch zwei oder drei Säle, die ganze Woche für sich. Während der Dauerverfügbarkeit zahlloser Filme, Videos und Clips im Netz sind die meisten Kinos paradoxerweise zu Alles-Anbietern mutiert, deren Programme Schnittmusterbögen gleichen. Es wird viel gezeigt, aber nur noch zu bestimmten Zeiten. Einen Film zu leben, ihn vom Schaufenster bis in den Saal, von Mittag bis Betriebsschluss, zum Hauptaugenmerk eines Theaters zu machen, gelingt nur noch den Filmkunstkinos oder, falls vom Filmverleih mit großen Fassadenpostern gebucht, besagten Blockbustern.
Das Kinofest Lünen, zweifellos ein wirkliches Publikumsfestival, hat es seit Anbeginn verstanden, dem deutschen Film, vor allem der sogenannten Mittelware, ein großes Podium zu bieten, das nicht in Schubladen und eben auch nicht in möglichen Programmschienen für Ziel- oder Zeitgruppen denkt. Das Lüner Publikum entdeckt seit Jahren neugierig die ganze Bandbreite des hiesigen Filmschaffens und prämiert es am Ende mit der Lüdia. Es arbeitet damit gegen die Nischenbildung, für eine breitere Aufmerksamkeit jenseits des Festivalbetriebs, der in den letzten Jahrzehnten das Kino um die Ecke und die hierzulande oftmals fehlende Filmkultur ersetzt hat. Dass es fast alle Gewinnerfilme im normalen Kinobetrieb schwer hatten, sagt vor allem etwas über das Wesen des Kinogeschäfts aus, das ja nie einfach war und Trends lieber wiederkaut statt sie zu setzen. Viele Filme des letzten Jahrhunderts, die heute als Klassiker gelten, waren bei ihrem Kinoeinsatz veritable Flops, konnten aber bei Zweitverleihern, mit geänderten Titeln oder als Reprisen jahrelang durch Stadtteil- und Provinzkinos touren. Wer es als deutscher Film derzeit in die Top Ten schaffen will, sollte als einfach nachzuerzählende Komödie über Männer und Frauen oder Kinderbuchadaption daherkommen, an die man für die kommenden Jahre noch eine 2 oder 3 dranhängen kann. Ein Festival wie das Lüner tut gut daran, genau diese Erfolgsgaranten nicht zu zeigen und sich stattdessen die einzuladen, die etwas wagen und den Markt umkrempeln wollen, die vorausdenken und ungewöhnliche Blicke auf die Welt bieten.
Preise eines so vorausdenkenden Festivals können hierzulande nur vertrauensbildende Maßnahmen für Verleiher und Besucher sein, die die konkrete Absicht eines Kartenkaufs am Startwochenende nur bedingt erzwingen oder voraussagen können. Auch gibt es weiterhin ein Interessengefälle zwischen Stadt und Land, das besonders Außenseiterdramen und Dokumentarfilme trifft – und es bleibt abzuwarten, ob sich daran durch neue ländliche Miniplexe mit vielen kleineren Sälen und einem zunehmend intellektuelleren Publikum etwas ändern wird. Fest steht: Die Lüdia-Gewinner „Deckname Dennis“, „Tuvalu“, „Evet, ich will!“ und „Ende der Schonzeit“ haben Trends frühzeitig vorausgesehen und verstärkt, etwa bei der Etablierung eines neuen, auch gesellschaftspolitisch relevanten Dokumentar- und Komödienkinos. Veit Helmers „Tuvalu“ wagte eine neue Poesie und Bildersprache, der wieder hochaktuelle „Deckname Dennis“ von Thomas Frickel und dem früh verstorbenen Matthias Beltz suchte als frühe Mockumentary eine zeitgemäße Anknüpfung zum Kabarettfilm der vergangenen Jahrzehnte. Franziska Schlotterers „Ende der Schonzeit“ läutete eine Renaissance des in Kriegszeiten spielenden, reflektierten Heimatfilms ein.
Film und Titel
Auch die Gewinner des seit 2001 verliehenen Berndt-Media-Preises für den besten Filmtitel spiegeln die Schwierigkeit, allein durch die richtigen Worte die Aufmerksamkeit eines Publikums zu erreichen, das sich übervorsorgt wähnt, aber viele Perlen zu Gunsten endloser Fernsehkrimis oder bodenlos dämlicher TV-Shows doch verpasst. Prämierte Titel wie „Was tun, wenn’s brennt“, „Schussangst“, „Urlaub vom Leben“, „Das Lied in mir“, „Dicke Mädchen“ oder „Tore tanzt“ haben viel Aufmerksamkeit erfahren, erreichten gegen die Konkurrenz der Hollywoodspektakel und deutschen Mainstreamkomödien immerhin mal sechsstellige, mal nur vierstellige Besucherzahlen. Dass Katrin Gebbes federleicht klingender „Tore tanzt“ zu den radikalsten, aber auch international angesehensten deutschen Filmen der letzten Jahre zählt, unterstreicht die vielen möglichen Beziehungen zwischen Titel, Werk und Rezeption. Die in 15 Filmkunstkinos erreichten 3.000 Besucher beweisen dabei ein offensichtliches Aufmerksamkeitsdefizit des normalen Kinopublikums, das es mittelstark eingestuften Filmen derzeit auch in anderen Ländern schwer macht.
Ein Filmtitel kann, ebenfalls wie ein durch das Publikum begutachteter ganzer Film, Trends setzen, in Spielplänen für positive Irritation oder eine schnelle Verbreitung unter Freunden oder in den sozialen Medien sorgen. In einer zunehmend mit Bildern um sich werfenden Medienwelt ist eine originelle Sprache nicht zu unterschätzen, was auch die Kreativität bei Filmtiteln wieder befeuern wird.
Und der Film hinter dem Titel? Der Hype um komplex erzählte Fernsehserien und der Crash der alle Altersgruppen bedienenden Samstagabendshow geben dem Kino die Chance, sich wieder ganz auf die Disziplin des 90- oder 120-Minüters zu konzentrieren und die Fernsehfilmdebatten der Vergangenheit ad acta zu legen. Ob das Kino in der Breite auch so kompliziert werden darf wie die hochgelobten US-Serien der Kabelsender? Das Kinofest Lünen wird in den kommenden Jahren sicher noch einmal an Bedeutung gewinnen. Und irgendwann ist er natürlich wieder da: ein wagemutiger deutscher Film mit einem tollen Titel und einer hervorragenden Vermarktung. Im Kino in der City und auf dem Land. Vielleicht auch wieder rund um die Uhr.
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