Die Rollenverteilung anfangs auf der Bühne wirkt an Brecht angelehnt: Wer mimt etwa den Jobcenterchef, wer gibt die arme Antragstellerin? Denn es obliegt dem Zufall und der bestehenden Macht, wer sich in der Gesellschaft wo wiederfindet, unten oder oben, arm oder reich. Nora Abdel-Maksouds „Jeep“ widmet sich einem Thema, über das in Deutschland ungern öffentlich gesprochen wird, obwohl es so viel Konfliktstoff birgt: das Erben.
Abdel-Maksouds in den Münchner Kammerspielen uraufgeführtes Stück eröffneten die diesjährigen 47. Mülheimer Theatertage. In der Stadthalle erwähnt das vierköpfige Ensemble die nackten Zahlen, welche die schreiende Ungerechtigkeit des Erbens aufzeigen: 400 Milliarden wandern jährlich zwischen den innerfamiliären Konten, während in Deutschland zugleich jedes fünfte Kind in Armut aufwächst.
„Eierstock-Lotterie“
Das Prinzip, das diese ungleiche Verteilung von Vermögen gewährleistet: eine „Eierstock-Lotterie“, wie es an einer Stelle des Stücks heißt. Abdel-Maksoud entwirft dagegen ein fiktives Reformszenario, in dem der Staat das Erbe konfisziert und per Zufallsprinzip verlost. Verantwortlich für diese Umverteilung ist ausgerechnet das Jobcenter, in dem nun alle im Wartesaal Platz nehmen und eine Nummer ziehen soll, bis das Losglück entscheidet: Wohlstand oder Entrechtung.
Daher sind es nicht mehr nur die Armen, die in dieser Behörde herumpoltern. Eva Bay spielt zwar eine langzeitarbeitslose Schriftstellerin, die beklagt, das im Hartz-IV-Satz vorgesehene Bildungsbudget von 1,12 Euro beim Bäcker „einfach wegschnabuliert“ zu haben. Doch es ist eine Privilegierte, die gegen die Lotterie rebelliert: Gro Swantje Kohlhof bangt als verwöhnte Mittelschichtstochter um ihr Erbe. Und richtet schließlich nervös eine Pistole auf die Sachbearbeiter.
Wohlstand oder Entrechtung
Zu diesen Bürokraten zählt Gabor. Vor dem Amt parkt sein titelgebender Geländewagen, der im Großstadtraum München offensichtlich weniger sinnvoll erscheint, dafür jedoch als Statussymbol in den flotten Wortwechseln glänzt. „Jeep“ entpuppt sich schnell als ein Distinktionsspiel, in dem sich die vier Akteure auf der Bühne ihre Biografien um die Ohren hauen: als Symptom einer Klassengesellschaft. Dass sich dabei alle hektisch durch Drehtüren winden, sorgt ebenso für Screwball-Comedy über gesellschaftliche Verwerfungen.
Mülheimer Theatertage | bis 26. Mai | Stadthalle Mülheim, Theater an der Ruhr u.a. | stuecke.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf den rechten Augen blind bis heute
Online: Die Mühlheimer Theatertage „Stücke“ – Festival 05/21
Dramatiker-Wettbewerb
Die 43. Mülheimer Theatertage – das Besondere 04/18
Schreiben für hier und heute
Die 41. Mülheimer Theatertage NRW „Stücke“ – Theater Ruhr 04/16
Wenn Hören zur Qual wird
„The Listeners“ in Essen – Prolog 01/25
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Wenn die Worte fehlen
„Null Zucker“ am Theater Dortmund – Prolog 01/25
„Ich war begeistert von ihren Klangwelten“
Regisseurin Anna-Sophie Mahler über Missy Mazzolis „The Listeners“ in Essen – Premiere 01/25
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24