Manchmal muss Theater auch faktische Geschichten emotional transportieren. Gegen das Vergessen. Gegen Geschichtsverkleisterung in einer Demokratie. Für die Opfer. Theater kann das, wie das Stück „9/26 – Das Oktoberfestattentat“ von Christine Umpfenbach beweist. Es handelt von einer Bombe, die im Herbst 1980 in München detonierte und es handelt von rechtem Terror, der in Deutschland damals und bis heute nur ungenügend aufgeklärt wurde und wird. Und es zeigt, wie haarsträubend emotionslos bayrische Landespolitik über Jahrzehnte mit Opfern und Angehörigen umgegangen ist und geht. Das Stück ist nominiert für den Wettbewerb um den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis an den besten Autor oder die beste Autorin und damit Teil der gerade stattfindenden digitalen Theatertage.
Kopfkino, kaum erträglich
„Das Einzige was mich wirklich interessiert ist, dass die Täter verknackt werden. Das wäre für mich wichtiger als jedes Denkmal und 25 Interviews. Dann hätte ich meinen Seelenfrieden.“ Renate Martinez ist eine von über 200 Menschen, die 1989 den rechten Terroranschlag auf das Münchener Oktoberfest schwer verletzt überlebt haben und sie wird so fast am Ende des szenischen Ritts durch die tiefen Abgründe von vorsätzlich versagter Aufklärung und grob fahrlässigem Versagen der Kontrollinstanzen zitiert. Vorher thematisiert Umpfenbach, die auch Regie bei der Uraufführung an den Münchener Kammerspielen führte, auch das musikalische Jahrzehnt, die Gründung der einst echten grünen Partei und die aktive zweite RAF-Generation. Im Osten Deutschlands fliegt die Jugend für einen „Schwerter zu Flugscharen“-Aufnäher noch von der Schule. Die Bühne ist derweil ein leerer Raum, wie es auch die Theresienwiese ist, wenn dort nicht das alkoholisierte Spaßrudel wütet. Szenenbilder und Einspielungen hängen an mobilen Helium-Luftballons. Die Protagonisten beschreiben gerade das unschuldige Treiben zwischen Zuckerwatte und Enterprise-Karussell beim traditionellen Volksfest der Stadtverwaltung München. Dann ist die Bühne und auch der Stream am Bildschirm schwarz. Durch das Dunkel kriecht der blutende junge Robert Höckmayr durch das Chaos, findet die sterbende Schwester, den toten Bruder. Kopfkino und Beschreibung sind kaum erträglich. Später nehmen sich noch zwei Geschwister Höckmayrs das Leben.
Ruhende Ermittlungen, bewegte Inszenierung
Aber der umtriebige CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß ist 1980 vom Bierzelt schnell am Tatort, posiert für die Fotografen, macht Wahlkampf und seine Sprüche. Resultat: Bereits am nächsten Tag ist der blutige Platz gereinigt, das lärmende Fest geht weiter. Schnell ist auch ein Einzeltäter ermittelt. Beweise werden noch schneller vernichtet, Zeugen nicht vernommen, Hinweisen nicht nachgegangen. Die Krönung: Selbst eine abgerissene Hand die niemandem zugeordnet werden konnte wird ignoriert. Aber auch sie wird umgehend entsorgt. So wurde rechter Terror damals kleingeschwiegen, die Mär vom verwirrten Einzeltäter gepflegt. Für den rechten Strauß war die rechtsextreme Wehrsportgruppe Hoffmann eben nur ein Zeltlager-Verein. Aber das Leiden für die Opfer geht weiter. In jugendlichen Jahren von Pseudo-Psychologen als Simulanten verschrien. Falsche Gutachten fürs Deutsche Opferentschädigungsgesetz erstellt. Die Tatbestände sind ruhig gestellt. Die Protagonisten erzeugen dagegen viel Bewegung auf der Bühne. Wechselnde Mikros, Licht- und Musikfetzen dazu die wandernden „schwebenden“ Bildwände, viel Ablenkung braucht die Recherche auch nicht. Erst 2014 gibt es eine spektakuläre Wiederaufnahme der Ermittlungen, die Ungereimtheiten kommen ans Licht. 2021 soll es vielleicht Entschädigungen geben. Vielleicht.
#stücke | bis 29.5. | Streams für 30 Stunden nach Aufführung abrufbar, Stücktexte während des gesamten Festivalzeitraums | Mülheim
Tipp:
Sibylle Berg: Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden | 23.5. 18 Uhr
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