Wenn eine international angesagte Band nur ein einziges Deutschland-Konzert auf dem Tourplan hat, steht Münster eher selten auf der Route. Doch in den Großstädten von Hamburg bis München waren die Architects schon 2022. Möglicherweise hat es der Band beim Vainstream Festival 23 so gut gefallen, dass sie sich mal die Halle nebenan ansehen wollten. Bei der Auswahl ihrer Support Acts haben sie sich zudem mit Spiritbox eine zurzeit extrem angesagte Band hinzugeholt, so dass die knapp über 6.000 Plätze der Halle Münsterland frühzeitig ausverkauft waren.
Loathe, die erste Band des Abends, die zur ungewohnt frühen Zeit von 19 Uhr auftritt, sehen viele Besucher noch nicht, da sich da noch die Parkplätze rund um das Messegelände füllen. Der Lokführerstreik führt dazu, dass die Anreise mit dem ÖPNV für die meisten Fans nicht in Betracht kommt. Und leider muss auch dieser Bericht ohne die erste Vorgruppe des Abends auskommen. Die meisten Stimmen, die man um sich herum aufschnappt, sind recht angetan von den Liverpoolern.
Scream & Growl
Es ist kurz vor 20 Uhr, als Spiritbox die Bühne entern und die Halle wortwörtlich im Sturm einnehmen. Dass eine Vorgruppe derart frenetisch empfangen und gefeiert wird, ist bemerkenswert. Nicht das übliche Häuflein mitgereister Fans vor der Bühne, sondern der weitaus größte Teil des Publikums ist in Bewegung. Die kanadische Band um Frontfrau Courtney LaPlante ist in diesem Jahr neben den üblichen Verdächtigen Metallica und Slipknot für einen Grammy im Bereich Metal nominiert. Stilistisch bewegen sie sich irgendwo zwischen Progressive Metal und Metalcore. LaPlante wechselt übergangslos von klarem Gesang zu Screams und so rauen Growls, dass man sich um ihre Stimmbänder zu sorgen beginnt. Es gibt wenig Interaktion mit dem Publikum und nach jedem Song verschwindet die Sängerin und teilweise auch die Mitmusiker für eine Weile ins Seitenaus der Bühne (wie Madonna, nur ohne Kostümwechsel), fast jeder Song wird von einem eingespielten Intro eingeleitet – inszenatorischer Schnickschnack, der den Flow des Sets stört. Dem Publikum ist das aber egal, insbesondere den Crowdsurfern, die immer wieder vor der Bühne angespült werden. Spätestens als Architects-Sänger Sam Carter sich Spiritbox anschließt, um seinen Gastpart in „Yellowjacket“ auch live zu leisten, gibt es kein Halten mehr. Das zehn Stücke umfassende Set schließt mit „Circle with Me“, „Holy Roller“ und „Hysteria“ und die Stimmung kocht so hoch, dass man meinen könnte, mit Spiritbox schon den Headliner des Abends gesehen zu haben. (Ein Eindruck, den man auch am Merch bekommen könnte, denn selbst der Support-Act verlangt selbstbewusste 40 Euro für ein T-Shirt …)
Hexenkessel Münsterland
Um ziemlich genau 21 Uhr wird die Pausenmusik lauter, Queens „Don’t stop me now“, das in der gesamten Halle mitgesungen wird, kündigt den Auftritt der Architects an. Mit „Seeing Red“ holen die Jungs aus Brighton sofort den großen Hammer raus: ihre neueste, erst im Dezember veröffentlichte Single, die hier in Münster auf ein textsicheres Publikum trifft. Und wer glaubte, bei Spiritbox sei die Stimmung bereits am Siedepunkt gewesen, kann nun zusehen, wie der Hexenkessel Halle Münsterland zum Überkochen gebracht wird. Das Bühnenbild der Architects ist in der Idee simpel, doch im Effekt bombastisch: Die Musiker agieren auf drei Ebenen, dahinter bühnenbreite LED-Wände für die Visuals. Diese Elemente fügen sich so ineinander, dass Animation und Band zu einem Gesamtbild verschmelzen. Das Schlagzeug ist zentral auf der mittleren Ebene positioniert und wird in mehreren Animationen als Nukleus der Band in Szene gesetzt. Der brachiale Sound wird von Lichtblitzen und Stroboskopen begleitet, während die epischen Passagen passende Entsprechungen auf der Videoleinwand finden. Die Setlist umfasst die letzten zwölf Jahre der Band mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf dem 2021er Album „For those that wish to exist“, von dem sage und schreibe acht Nummern gespielt werden. Eigentlich sind keine Verschnaufpausen vorgesehen, doch ein technisches Problem nach dem ersten Drittel zwingt Sam Carter zu einer ungewöhnlich langen und sehr emotionalen Ansage. Er bringt nicht nur glaubwürdig seine Dankbarkeit zum Ausdruck, für die – und von der – Musik leben zu können, sondern erinnert das Publikum daran, wie fragil das Leben ist, dass man die Zeit bewusst genießen soll, die einem im Leben gegeben ist. Er erinnert damit an den 2016 verstorbenen Gitarristen und Band-Mitbegründer Tom Searle, der drei Jahre lang vergeblich gegen sein Krebsleiden gekämpft hat. Diesen Carpe Diem-Moment nehmen sich die Leute in der Halle zu Herzen und drehen nochmal weiter auf, als „Gravedigger“ ertönt, ein Song aus Searles Feder. Im vorderen Drittel der Halle entsteht ein imposanter Circle Pit (Nicht „the biggest this city has ever seen“, wie Carter meint – dieser Rekord dürfte den Lokalmatadoren Donots auf ewig sicher sein, aber dennoch beachtlich.) Bis in die allerhintersten Reihen wird gehüpft und gefeiert, nur die Ränge halten sich etwas zurück. Dabei ist es egal, ob das stadiontaugliche und chartplatzierte „Dead Butterflies“ ertönt oder aber ein Brett wie „Nihilist“.
Bei „These colours don’t run“ kommt es dann auch bei den Architects zu einem Gastauftritt: Loathe-Sänger Kadeem France unterstützt Carter beim ältesten Song der Setlist. Und als Carter um „some noise“ für die Support-Acts bittet, ernten die Vorgruppen kein höfliches Klatschen, sondern ehrlichen Jubel insbesondere für Spiritbox. Nach ziemlich genau 90 Minuten und dem Abbruch-Hit „Animals“ als zweiter Zugabe ist der Rausch vorbei.
Im Mai sind Architects wieder im Vorprogramm von Metallica unterwegs und es sollte nicht verwundern, wenn die Hallen bei der nächsten Tour noch größer werden.
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