Die Naturfreunde Bochum Langendreer, die die Veranstaltung mitorganisierten, freuten sich über den Besuch von Uwe Hiksch. Dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten (1994-2002), lag das Thema sichtlich am Herzen. Für seinen Vortrag „TTIP bedroht unsere Rechte“ (27.11.), reiste er über 500 Kilometer aus Berlin an. TTIP (engl.: Transatlantic Trade and Investment Partnership) wurde in den letzten Monaten immer hitziger diskutiert. Der öffentliche Druck gegen das Abkommen wächst, ebenso wie der Drang seiner Befürworter, es durchzusetzen. Die Geheimhaltung der Verhandlungen verunsichert die Bürger. Wie der Vortrag von Hiksch zeigen sollte, völlig zu Recht. Und schlimmer noch, deuteten seine Ausführungen einen Verkauf der Demokratie zu Gunsten eines immer abstrakteren Begriffs an: „Wachstum“.
Eine Exkursion in die Entstehungsgeschichte des TTIP zeigte den Freihandel als eine, wie Hiksch betonte, „uralte Angelegenheit“. Das sogenannte MAI-Abkommen (Multilaterales Abkommen über Investitionen, 1995) scheiterte 1998 am Widerstand Frankreichs, während auch ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement, 2012), nach europaweiten Protesten, abgelehnt wurde. Brandaktuell gilt CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement zwischen Deutschland und Kanada) als „Blaupause“ zum TTIP. Laut Bundesregierung sind die beiden bilateralen Freihandelsabkommen für den internationalen Wettbewerb generell unabdingbar und sollen vor allem eines: Arbeitsplätze schaffen. Erst letzte Woche (27.11) ging Sigmar Gabriel in die Offensive gegen die TTIP-Gegner. Mit den Worten „Wenn wir das hier falsch machen, werden unsere Kinder uns verfluchen", bewarb er TTIP als akut notwendige, einzige Rettung.
Doch so neu ist das Thema nicht, denn bereits 1995 forderte der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel den „Transatlantic Business Dialogue“. Eine transatlantische Agenda, die bis zum Ende der 90er Jahre durch EU-Handelskommissare zum „New Transatlantic Marketplace Agreement“ ausgearbeitet und erst im Jahr 2007 durch EU-Kommissar Peter Mandelson öffentlich gemacht wurde. Diesmal als „Rahmen für eine fortschreitende transatlantische wirtschaftliche Integration“.
Freiheit vor allem für Großkonzerne
Hiksch sprach an dieser Stelle von einem „kleinen Zirkel der Mächtigen“. Die Bundesregierung könne auf einen etwa 2500 Seiten langen Vertrag, nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten. Da die EU-Kommission auch zum jetzigen Zeitpunkt noch hinter verschlossenen Türen verhandelt, liegt Hiksch mit seiner These wohl nicht so falsch. Er thematisierte nun die Inhalte des Abkommens und machte an aktuellen Beispielen deutlich, welche zum Teil erschreckenden Konsequenzen TTIP für Staat, Verbraucher und Unternehmen mit sich bringen könnte.
Die ökonomischen Begründungen für TTIP basieren größtenteils auf vereinfachten theoretischen Modellen wie dem Exportbasiskonzept und der Theorie der komparativen Kostenvorteile. Letztere schreibt jedem Land bestimmte Kostenvorteile zu, welche durch Freihandel ausgenutzt werden könnten. In der Realität könnten diese z.B. aber auch niedrige Umweltstandards oder Ausbeutung von Arbeitskräften sein. Hiksch dokumentierte weiterhin, dass die USA sechs von acht Kernarbeitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht unterzeichnet habe – darunter z.B. die Punkte „Verbot von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf“ und die „Beseitigung der Zwangs- und Pflichtarbeit“. Letzteres erklärte Hiksch mit dem privatisierten Gefängnissystem in den USA und den damit verbunden, billigen Arbeitskräften, zu denen etwa 7% der farbigen US-Bevölkerung gehörten.
Eine weitere Folge von TTIP könnte der Verfall „hart erkämpfter“ europäischer Produktstandards sein. In Europa müssten z.B. Pestizide schon vor Markteinführung auf ihren Schädlichkeitsgrad hin geprüft werden. In den USA sei dies umgekehrt – hier müssten die Gegner eines Produkts dessen Schädlichkeit erst beweisen. Einige Pestizide wurden dadurch erst nach 20 Jahren wieder vom Markt genommen. Warum also kulturelle Normen und Wertestandards aufgeben, zu Gunsten einer Theorie, die offenbar ausnahmslos international agierende Großkonzerne zu fördern und zu schützen scheint? Warum Kultur gegen Wachstum tauschen?
Bußzahlungen aus Steuergeldern
Auf der ganzen Welt zeigen sich zudem Folgen von ungeregeltem Freihandel anhand der parallel zu den Abkommen entstandenen neuen Rechtssysteme. TTIP ermöglicht es Konzernen, basierend auf der internationalen Schiedsgerichtbarkeit, Staaten zu verklagen, wenn diese z. B. durch Gesetzesänderungen den Gewinn eines Unternehmens schmälern. Den beteiligten Staaten drohen dadurch hohe Strafen. Der US-Konzern Occidental verklagte z.B. den Staat Ecuador auf 1,76 Mrd. US-Dollar Schadensersatz, als Ecuador seine Umweltschutzbestimmungen änderte und so gegen die Ölförderverträge verstieß. Ein weiteres Beispiel: Der Energiekonzern Vattenfall verklagt gegenwärtig die Bundesrepublik auf 4,7 Mrd. Euro. Der Grund ist die geplante Abschaltung mehrerer Atomkraftwerke. Hiksch sprach von über 400 aktuellen offenen Schiedsgerichtsverfahren auf der Welt. „Pro Woche kommen in etwa zwei dazu“ und die Geldbußen würden aus Steuergeldern finanziert. Selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen sei betroffen. Da es staatlich gefördert wird, könnten andere Anbieter klagen, da die „Konkurrenz“ staatlich mitfinanziert würde. Eine ebenso unfassbare Vorstellung, wie die, dass das umkämpfte Fracking-Verbot durch TTIP vereitelt werden würde.
Nach dem Vortrag war die Stimmung sehr ruhig. Eine wirkliche Diskussion kam nicht zustande. Es hatte eher den Anschein, dass Einigkeit darüber herrschte, TTIP müsse verhindert werden. Hiksch gab sich diesbezüglich zuversichtlich. Auch wenn es sehr hart werden würde, gehe er davon aus, dass der wachsende öffentlich Druck TTIP nochmal verhindere. Eine geplante europaweite Bürgerinitiative sei zwar nicht anerkannt worden, dennoch müsste man es einfach weiter versuchen und sich mobilisieren. Schließlich bedrohten die beschriebenen Freihandelsszenarien zahlreiche Gruppen der Gesellschaft.
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