Bochum hat alles, was eine Late-Night-Show braucht: Kühne Entertainer, improvisationsbereite Musiker und eine formidable nächtliche Skyline. Nun, eins davon mag nicht ganz der Wahrheit entsprechen, aber das machte die 9. Auflage von „Heute Nacht mit Helge“ mit dem Mut wett, soziale Themen mit den Gästen in der Tiefe zu besprechen. So erfreute sich die Show im Rahmen von Bochums Bobiennale, dem „Festival der Freien Szene“, einerseits der nach-pandemischen Freiheit, andererseits fragte sie eben nach dieser Freiheit.
Komik und Ernst
Ehrlich: Wer braucht eine Skyline, wenn die Bühne geziert wird von Teppichen, die an Galaxien und kosmische Nebel erinnern? Den Ausstellungsraum des Teppichdesigners Jan Kath in Bochum für eine Late-Night-Show zu nutzen, ist schon ziemlich abgespaced. Passend dazu betreten zwei Figuren in silbernem Minikleid bzw. entsprechendem Anzug die Szene und eröffnen den Abend mit „I’ve been looking for freedom: Musikerin und Schauspielerin Tia Lou an Gitarre, Synthesizer, Tontechnik und Schauspieler Helge Salnikau, „die Freiheitsstatue vom Ehrenfeld“, als Moderator. Ein Job, der nicht ganz leicht fällt, denn da ist dieser Esel, der als Nutztier einen anderen Blick auf Freiheit hat („Wer anderen die Freiheit wegnimmt, hat selbst kein Recht darauf“).
Ist der Rahmen in den ersten Minuten des Abends noch für ironische Comedy gesetzt, wandelt sich der Ton schnell. Der Talk-Teil der Show beleuchtet das Thema „Was ist Freiheit?“ gesellschaftspolitisch. Der Grundtenor ist: Nicht jeder hat die gleichen Freiheiten; in einer ungerechten Gesellschaft gebe es auch keine gerechte Freiheit. Das Bild des eingepferchten Esels lässt diese Perspektive plausibel erscheinen. Für Kontroversen, etwa dass Freiheit nicht Gleichheit bedeutet, ist an diesem Abend kein Platz.
Slam, Wissen, Recherche
Dennoch sind die Gäste vielfältig. Dina Bogdanski, 19-jährige Poetry-Slammerin und Journalistin, hat ihre „besten Jahre“ im Lockdown verbracht. Die freieste Zeit ihres Lebens in der unfreiesten Gesellschaft. Und generell bangt ihre Generation Z um ihre Zukunft, was ebenfalls einengt. Selbstironisch und -reflektiert hält der Bochumer Propst Michael Ludwig, Pfarrer der Propsteipfarrei St. Peter und Paul, eine Rede, die deutlich macht, dass Freiheit kein Selbstzweck ist: wofür Freiheit, wenn man sie nicht nutzt? Später wird das Publikum über den Begriff des Klassismus aufgeklärt, die Diskriminierung aufgrund von (mutmaßlicher) sozialer Herkunft oder Position: Jan Thul und Polina Josefs haben das „Arbeiter*innenkinder“-Magazin „Dishwasher“ gegründet. „Ist Bildung frei?“ werden sie gefragt. Klare Antwort: Nein. Bildung werde von Möglichkeiten bestimmt und da gebe es reichlich Benachteiligungen. Bastian Schlange, Journalist vom Recherche-Kollektiv Correctiv, hat „das einzig wahre Faktencheckbuch“ geschrieben. Fake News bedrohten die Demokratie und damit die Freiheit, sagt er, denn sie spalteten die Gesellschaft und säten Misstrauen. Sein medienkritischer Ansatz und seine Lektion in Medienkompetenz hat einiges für sich, wird aber durch die allzu leichtfertig geschwungene Nazikeule argumentativ geschwächt.
Geschwungen werden zum Schluss auch Plakate und Transparente, denn der Esel stürmt mit anderen Tieren protestierend die Bühne, was in einer pathosgeladenen Rede und Westernhagens „Freiheit“ mündet. Moderator Helge Salnikau strotz wieder vor Energie. Die von dem Regisseur Frank Weiß und der Fotografin und Bühnenbildnerin Sandra Schuck konzipierte Show hat aufgerüttelt.
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