Es war abzusehen. Drei Tage lang genossen die Besucher von Bochum Total Temperaturen von weit über 30 Grad. Dass es irgendwann die Quittung geben musste, war klar. Schon morgens hatte es kräftig gewittert und man durfte vermuten, dass jenes Unwetter sich auch dafür verantwortlich zeigte, dass zeitweise so gut wie keine Züge die Strecke Wattenscheid–Mülheim passieren konnten. Bochum war kurzzeitig vom öffentlichen Regionalverkehr abgeschnitten. Sicherlich war dies auch ein Grund dafür, dass es zum Programm-Start der trailer-Wortschatzbühne um 14 Uhr noch recht leer in der Stadt war. Ein Publikum adäquater Größe erspielte sich das Impro-Theater „Pottpourri“ aber in Windeseile und auch das Wetter hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst wieder beruhigt und überzeugte mit gewohnter Hitze.
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Das Prinzip der Vorgehensweise der jungen Theatergruppe war schnell erklärt: Gespielt werden beliebige Szenen, die das Publikum vorschlägt. Der Moderator unterbricht zeitweilig und erschwert das Spiel durch gewisse, teils abstruse, Auflagen. So wurde das sich von einer jungen Dame im Kindergartenalter gewünschte Märchen „Schneewittchen“ zu einer Lachnummer im positiven Sinne. Der größte Gag: Auf die Frage, wie ihr es denn gefallen hätte, antwortete die ca. fünfjährige Kritikerin ganz trocken: „Ach ja, ganz ok. Das mit dem Spiegel hätte besser sein können“. Die anschließende Performance konnte dann aber wirklich jeden überzeugen. Die Figuren: Chef einer Auftragskiller-Agentur, Sekretärin und Mord-Praktikant . Der Plot sollte im Spiel entstehen. Kein Problem für ein Improtheater, wären da nicht gewisse Vorgaben zu beachten. Bei jedem „Ja“ oder „Nein“ der Schauspieler wurden die jeweiligen Figuren mit einem Handicap belegt. Am Ende durfte sich das Publikum über eine blinde, lispelnde, von Tourette geplagte Sekretärin mit französischem Akzent, einen dreiarmigen Agentur-Chef und einen sich ständig am Kopf kratzenden Praktikanten schlapp lachen.
Matthias Reuter als Leidtragender der Witterung
Dann war es Zeit für mehrstimmige Lieder über Knoblauch und andere wichtige Dinge des Lebens. Der Chor des AKAFÖ Bochum unterhielt gut 20 Minuten mit kurzweiligen Liedern, ehe die von vielen Zuschauern vorsorglich eingepackten Regenschirme das erste Mal zum Einsatz kamen. Gut, dass nun erst einmal Pause war.
Um 17:45 Uhr bekam es das Publikum dann mit einem altbekannten Highlight in Person von Matthias Reuter zu tun. Der Oberhausener Musik-Kabarettist stand auch an diesem Abend für subtil-politische Klavier-Stücke und wahnwitzige Anekdoten über Alltag, Ruhrpott und die Welt. Finden Sie den Fehler: In München gibt es ein Oktoberfest, in Oberhausen seit Neuestem acht. „Man will immer sein, was man nicht ist, sagte schon Sigmund Freud“ konstatierte Reuter. „Aber am nächsten Samstag ziehen wir den Bayern natürlich wieder die Lederhosen aus“. Franz-Josef Strauß würde sich im Grab umdrehen angesichts solch kruder Widersprüchlichkeiten, Matthias Reuter sah es gelassener und betrieb nicht-wertende Aufklärung an der Basis, die langsam aber sicher, trotz aufziehender Wolken, in Festzelt-Stimmung kam. Nachdem Reuter die Mittelstellung der typischen Ruhrpott-Drohung „Ich komm dir gleich dahin, du!“ zwischen Maulschelle und dem philosophischen Ansatz von Walter Benjamin, der Sprache als einzige Möglichkeit eines anderen sittlichen Handelns, als eine Sphäre der gewaltlosen Einigung begreift, erklärt hatte, brach das Unwetter los. Passend zu sich im Wind biegenden Befestigungen jeglicher Art, sang Reuter sein Lied über Haftpflichtversicherungen zu Ende, bis das Programm schließlich aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden musste.
Schwarze Messe zum Abschluss
Das Wetter beruhigte sich allmählich, das große Gewitter blieb aus, so dass mit leichter Verspätung die Hunkey Dorys die trailer-Wortschatzbühne betreten konnten. Mit zwei Akustik-Gitarren und Cajon bewaffnet, spielte sich das sympathische Trio durch ein kurzweiliges Set voller Folk-Pop-Stücke. Trotz gelegentlicher Schwierigkeiten mit der Technik ein gelungener Auftritt der jungen Band. Passend zum Sonnenuntergang und erneut aufziehenden Regenwolken zog Klaus Märkert mit der Band Atomic Neon den Vorhang zu. Der Kult-Autor der düsteren Szene lockte viele schwarz gekleidete Gestalten vor die trailer-Wortschatzbühne. Die düsteren Geschichten, nicht frei von schwarzem Humor, wechselten sich mit den Dark-Wave-Songs von Atomic Neon ab. Hier eine short story über liebgewonnene Spinnen auf TV-Geräten und endlose Fahrten zu Reha-Kliniken, da Songs über Sehnsucht, Krankheit und Hoffnung. Thematisch gaben sich Autor und Band die Klinke in die Hand. Das Publikum zeigte sich mehr als angetan vom programmatisch äußerst morbiden Abschluss des Abends und stürmte anschließend den Merch-Tisch der Künstler.
Ein spannendes, ereignisreiches und wohl einzigartig bunt gemischtes Bochum Total auf der trailer- Wortschatzbühne ging damit zu Ende. 2016 kann kommen – 31 wird man schließlich auch nur einmal.
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