Der in Deutschland geborene und wahrscheinlich ab 1950 bedeutsamste amerikanische Dichter Charles Bukowski sagte einst: „Poetry is what happens when nothing else can.“ In den verschiedensten Kulturen war es über Jahrtausende hinweg ebendieser innere Zwang zu schreiben, es sich nicht aussuchen zu können, sondern es einfach tun zu müssen, was einen ‚echten Dichter’ kennzeichnete.
Erst 22 Jahre alt ist der Dortmunder Autor Calvin Kleemann, der ‚letzte Poet’, wie er sich nennt. Er schreibt, weil er muss. Die Schönheit der Sprache zu vermitteln ist seine Passion und wer seine Texte kennt, der glaubt ihm. Seine bereits zweite Anthologie erscheint diesen Monat. Bekanntheit erlangte er z.B. durch seine Mitgliedschaft im Dichterensemble von „Treibgut-Literatur von der Ruhr“.
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Auf bereits neun Jahre Bühnenerfahrung blickt Kleemann zurück, als er an diesem vierten und letzten Bochum Total-Tag 2016 die trailer-Wortschatzbühne betritt. Er ist laut, angriffslustig und leidend. Man sieht es ihm nicht unbedingt an, doch er neigt zu emotionalen Exzessen auf der Bühne. Dort wird er das eine oder andere Mal so um die drei Meter groß und manch einem ist das auch schon mal zu viel des Guten. Die einigen wenigen Verluste, kann er jedoch problemlos durch die Qualität seiner Lesung, die er Wortkonzert nennt, ausgleichen. Vorüberziehende Bochum Total-Besucher gesellen sich spontan immer wieder dazu.
Wenn Kleemann einmal angefangen hat, hört er so schnell nicht mehr auf. Sein Ziel ist nicht die längste Alliteration oder die meisten Reime hintereinander, sondern die Botschaft durch seine Emotionen zu transportieren. Er brettert meistens in einem einzigen Rutsch durch seine prosa-lyrischen Texte und nimmt dabei alle Höhen und Tiefen extrem energisch mit. Ein verbales Wechselspiel zwischen Rage, Verzweiflung und Trauer.
Auch heute startet Kleemann direkt voll durch. Ohne zu zögern, quasi mit der Mikrophon-Übergabe, steigt er intensiv in seinen Text „Im Glanze des Siliziums“ ein. Hier geht es um die getarnte, gefährliche graue Flut, ein besonderes Symbol in Kleemanns Texten. In den schnellen Vers-Abfolgen ist die Rede von unsichtbaren Verkabelungen, Realitätsverlust durch Reizüberflutung und von einem inzwischen „lippenlos lächelnden“ Monster, dem Menschen. Die Anonymität des virtuellen und digitalen Zeitalters und der Mensch, als Sklave einer außer Kontrolle geratenen Maschine, sind hier die literarischen Leitmotive. Echte Menschlichkeit ist in Kleemanns Gedicht lediglich noch ein Mythos.
Darauf wird nun aufgebaut. Als nächstes auf dem Programm steht die heuchlerische soziale Maskerade als Resultat moderner Sozialisation – insbesondere im Hinblick auf Schönheitsideale. Das Zentrum des Textes „Synthetische Schönheit“ dreht sich um eine verwirrte, völlig verblendete Tänzerin in einer Disko. Längst ihrer Seele beraubt, versucht sie doch, ihre innere Leere durch möglichst viel Schminke und nutzlose, puppenhafte Accessoires zu kompensieren. Das Gedicht habe er damals wirklich nach einem Clubbesuch verfasst, gibt er zu verstehen. Für diese arme Seele in Not soll der folgende Textauszug selbst sprechen, auch um einen konkreten Eindruck über Kleemanns Textarbeit zu vermitteln: „Sie tanzt. Von nichts als Stofffetzen und Lichtern bedeckt. Im Schönheitswahn ohne Hemmung und Scham; sie hat sich längst schon in sich selber verfahren. Splitterholzbeine so brüchig wie Kreide, aufpoliert, blankrasiert vom Kopf bis zur Scheide. Sie tanzt koital, in blauschwarzem Licht. Doch unter der Hülle – tanzt nichts.“
Kleemann durchlebt sein zu Papier gebrachtes Innenleben noch einmal, während er teilweise ziemlich lange Texte völlig frei vorträgt. Es scheint, als nehme er Kummer, Leid und Schmerz des menschlichen Daseins und der ganzen Welt wie ein Schwamm in sich auf. Er befasst sich mit den großen Fragen des menschlichen Daseins, in einer immer schnelleren Welt voller Druck, Kampf und Gier. Seine Inspiration ist seine unmittelbare Umwelt und alles, was darin vorkommt. Die Menschen, die Missstände, das Unrecht, der Ekel, das Aufgeben. Die graue Flut halt, wie er es nennt.
Sein großes Thema, nennt er „Gegenwartsschock und Narration-Kollaps“. Seine Botschaft lautet stets: Macht euch frei! Oder denkt wenigstens darüber nach, euch frei zu machen. Wer ihn verstehen will, muss ihm zuhören. Wer ihn wirklich verstehen will, muss ihm nicht nur länger zuhören, sondern auch mitdenken. In seinen Versen ist zudem nichts dem Zufall überlassen. In ihrer Struktur und Lesart sind die Strophen modern, mitunter Rap-ähnlich, transportieren jedoch die tiefschürfenden Gedanken eines barocken oder romantischen Künstlers. Nur dass die Vers-Abfolge hier meistens eine viel schnellere ist.
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