Wir sitzen im Rockabilly Club, an der Theke vor uns ein junger Barkeeper und ein Mädchen im gepunkteten Petticoatkleidchen. Das Repertoire der Jukebox umfasst Litte Richard, The Coasters, Buddy Holly und viele mehr. Es geht laut her, so laut, dass manch einer die meiste Zeit des Abends mit den Händen über den Ohren verbringen wird. Das GOP in Essen präsentierte am 6. März seine neue Produktion, die rasante Show „Rockabilly“. Neun Künstler aus der ganzen Welt feierten mit ihrem Publikum einen nostalgischen Abend im Stil der 50er Jahre. Die Geschichte? Unkompliziert. Denn Konflikte, Sehnsüchte und dramatische Liebesgeschichten spielen keine vorranige Rolle im Rockabilly Club. Der Mittelpunkt ist der Moment, das Wichtigste ist die Show, und die kommt schwungvoll, fröhlich und ausgelassen daher.
Durch den Abend führt Max Nix mit seinem Moderationspartner Willi Widder Nix – schrille Outfits und häufige Garderobenwechsel inbegriffen. Mit unkomplizierten Witzen reiht sich das Duo in die heitere Atmosphäre ein. Leichte Kost mit selbstironischen Gags und einigen Ausreißern in anzüglichere Themenbereiche. Dabei spielt die eine oder andere Pointe gern mit dem Humor der Besucher, die ungewollt selbst Teil des Bühnenprogramms werden. Fraglich ist hierbei, wie eine Zuschauerin reagiert, die sich völlig unverhofft mit dem breitbeinig vor ihr sitzenden Max Nix konfrontiert sieht. Die Herren Nix und Widder Nix haben sich eine sehr hohe Toleranzgrenze gesetzt, was Schlüpfrigkeit betrifft, und eine sehr niedrige Grenze für die Gürtellinie.
Das Herz der Show bilden die Artisten in Petticoats und Hosenträgern. Getarnt als Barkeeper oder beschwipster Gast blühen die Künstler auf, wenn ihr großer Moment bevorsteht. Adrienn Banhegyi aus Budapest, Welt- und Europameisterin im Seilspringen, schlüpft in die Rolle der Fräulein Hildegard, die das Publikum mit ihrer Disziplin in Atem hält. Dabei lässt sie den Schulsport ziemlich alt aussehen: In hohem Tempo springt sie über ihr Seil, tanzt durch ihr Seil und grinst dabei entspannt in die Zuschauerreihen. Besonders beeindruckt sie, als sie auf dem Boden sitzend immer schneller über das Seil hüpft. Von der Bar in den Luftring stolpert Annie Smith aus Montreal, Stammgast des Rockabilly Clubs und reichlich angetrunken. Doch genauso angeheitert wie sie ist, so energisch zeigt sie sich auch. Marie-Ann, so ihr Name auf der Bühne, überzeugt vom ersten Moment mit schnellen Kunststücken in der Luft. Scheinbar mühelos klettert sie im Luftring und schwingt dabei über den Köpfen des Publikums hin und her. Ähnlich wagemutig präsentieren sich die Farellos, das Duo bestehend aus Toni Farello und der burschikosen Reinigungskraft Frau Schmidt. Letztere mausert sich mit ihrem mannhaften und doch auf verschrobene Weise niedlichen Auftreten zur absoluten Sympathieträgerin. Zu zweit auf dem Einrad nehmen die Farellos jedes Hindernis, darunter Treppenstufen und Trampolin, und meistern damit neben Marie-Ann die wohl riskanteste Performance des Abends.
Dass „Rockabilly“ weniger halsbrecherische Szenen vorweisen kann, beeinträchtigt jedoch nicht den Gesamteindruck der Show. Denn auch die weniger gewagten Auftritte sorgen für Begeisterung in der Menge. Dazu tragen die fröhlichen Rhythmen der 50er Jahre, das farbenfrohe Bühnenspiel und die energiegeladenen Artisten bei, die das Lächeln nicht aus dem Gesicht bekommen und sich den einen oder anderen Flirt mit dem Publikum nicht nehmen lassen. Rokko Valentino, der italienische Vollblutjongleur, tritt als Frauenschwarm des Abends auf, jongliert mühelos mit Bällen, Ringen und Keulen und lässt mit seinem Hüftschwung Frauenherzen höher schlagen. Aus Russland kommt Igor Boutorine alias Johnny be Hoops, welcher das Gerücht widerlegt, Hula Hoop sei nur etwas für Mädchen. Die Hula Hoop-Reifen lässt der Gewinner des russischen Supertalents so schnell hin und her wirbeln, dass die erste Reihe Anlass zur Unruhe hätte, hätte Igor den Sport nicht zur Perfektion geführt.
Den krönenden Abschluss bietet Elvis himself, zuvor bereits auf der Bühne, jedoch getarnt als Koch Luigi aus Bottrop. Der King of Rock’n’Roll feuert die Stimmung mit ein paar Stücken aus seinem Repertoire noch einmal an – den Hüftschwung hätte er sich aber besser vom Meister aus Moskau abgeguckt. GOP-Direktor Matthias Peiniger fasst die Show so zusammen: „Noch nie habe ich mich nach einer Premiere so gut gefühlt.“ Gute Laune ist definitiv garantiert bei „Rockabilly“. Allerdings erfordert die Show bezüglich Humor und Lautstärke eine hohe Schmerzgrenze.
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