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Stückweise schrumpft der Geist. Irgendwann ist der Kampf gegen die Gespenster verloren
Foto: ©Edi Szekely

Der äußerste Saum eines Bewusstseins

28. Mai 2014

Kay Voges bringt Sarah Kanes „4.48 Psychose“ auf die Dortmunder Studiobühne – Auftritt 06/14

Airflow, temperature, ecg. Ich kann nicht schlafen. Daten, Daten, Daten. Kay Voges inszeniert im Dortmunder Studio „4.48 Psychose“ von Sarah Kane. 15 Jahre sind vergangen seit dem Ende der britischen Dramatikerin am Fensterkreuz. Ein Raum im Raum, ein Kubus, darin drei gefangene Teile eines Ichs, alle verkabelt. Der Regisseur frönt dem „Self-Hacking“, der digitalen Selbsterfassung aller physiologischen Daten seiner Protagonisten, in Echtzeit auf die Beamer-Gaze. Die Spezies Mensch sitzt darum herum. Das Raumschiff der Borg erwacht zum Leben. Die Borg sind viele, haben aber nur ein Bewusstsein, hier geht es um Eine mit vielen Bewusstseinen. Theater als klinische Psychologie. Ein Text als Behandlung wie in Clockwork Orange, ein Text zerbombt mit Geräuschen, mit Lichtspeeren, mit Geschrei? Fuck. Dies soll das letzte Gedicht der Sarah Kane sein? Nichts ist ewig (nur das Nichts). Vielleicht noch Wagner oder Mozart. Brachiale Wesen die sich die 21 Gramm Seele aus dem Körper schreien.

Voges inszeniert lautstark ein Stück, in dem es 47 mal die Regieanweisung „Schweigen“ gibt. Reduziert den Aufschrei fast auf das Krankheitsbild. Mit akuter Psychose in die Notaufnahme. Es gab eine Nacht, in der sich mir alles offenbarte. Es wurde Sarah Kanes letzte und doch: „Eine Stunde 12 Minuten bin ich ganz bei der Vernunft“. Die Regie hält diese Zeitspanne konkret ein. Wie vernünftige Bewunderer. Das Zuschauen in Dortmund strengt an, es verwirrt, aber es macht froh, irgendwie. Ein wunderbarer Abend, ein großer Abend, der die Enge des Theaters verlässt und sich zur Kunstperformance mausert – auch durch die Programmierer des Chaostreff Dortmund e.V., dem Musiker Tommy Finke und dem Filmer Mario Simon. Die Fieberkurve steigt, die Herzfrequenzen der Schauspieler auch, der Puls oft weit über die 130. Das Individuum verschwindet. Die Reflexion auf Krankheit, Behandlung und ihr unmedikamentiertes Bewusstsein am frühen Morgen, diese Reflexion, die Sarah Kanes letzte Arbeit war und erst kurz vor ihrer Selbsttötung dem Verleger übergeben wurde, hat in der Dortmunder Fassung eine neue Deutung erfahren. Björn Gabriel, Uwe Rohbeck und Merle Wasmuth spielen sich dafür Kanes Seele aus dem eigenen Leib.

In „4.48 Psychose“ hat Kane schonungslos ihre Krankheit dokumentiert. Unter der sie litt, von der sie die Ärzte aber nicht befreien konnten. Sie wusste, dass die Biochemie sie nicht rettete, sie wusste, dass die nur weiteres Siechtum verursachte. Mit Gewalt wehrte sie sich gegen die Symptome, schrie nach Rettung, verfluchte den Psychiater, der „eben mal hereinplatzt, mich zu verarschen“. Sie wollte nicht leben müssen in so einer Welt. Das große Gedicht, das große Drama inszeniert Voges dialogisch. Das ist nicht neu, aber bekommt hier eine neue visuelle Dimension. Die Choreografie beschränkt sich auf den winzigen Raum, der selten einsichtig ist, meist nur durch die Gesundheitsdaten der drei Schauspieler. Die wirken selbst wie Borg, mit all der Technik an Arm und Rücken, geschminkt wie zum Tollschocken ihre Wort-Gefechte austragend, blutbeschmiert und in Echtzeit schwitzend. Selbst in den portraithaften Videogroßaufnahmen, die live eingespielt werden, wenn Merle Wasmuth sich die Haare abrasiert, oder Uwe Rohbeck als Psychiater nicht mehr weiter weiß.

Der textuelle Marlstrom zieht die Dreigeteiltheit akustisch, visuell und körperlich immer weiter in den Abgrund, während Wortfetzen und Textzeilen im Original wie bei Jenny Holzer über den Bildschirm flimmern. Fuck you, fuck you, fuck you. Eine pathologische Symphonie aus Wort, Schrift und Tönen mit medizinischen Innereien, die kein Zuschauer so schnell erfassen kann. Sertralin, 50 mg, Zopiclon, 7,5 mg oder Melleril, 50 mg, dass diese Medikamente allerdings Hautausschlag und Schüttelfrost hervorrufen glaubt jeder sofort, ohne über die Wirkstoffe Bescheid zu wissen. Die chemische Keule als Antwort auf eine verwundete Seele, das konnte nicht gut gehen und ist es ja auch nicht. Auf die letzte Eruption folgt das lange dramaturgische Schweigen. Der Kubus wird geöffnet. Die Drei stehen im gleißenden Scheinwerferlicht. Sie verschwinden. Wem ich nie begegnete, das bin ich. Die letzten Sätze verhallen im sprachlosen Raum. Bitte öffnet den Vorhang. Danke Sarah.

„4.48 Psychose“ | Sa 28.6. 20 Uhr | Theater Dortmund Studio | 0231 502 72 22

PETER ORTMANN

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