trailer: Herr Reipöler, Sie zelten im Ruhrgebiet – warum das denn?
Der Begriff „zelten“ trifft dieses komplexe Vorhaben, das wir uns seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht haben, nicht ganz. Wir veranstalten ein großes 17-tägiges Festival im Herzen des Ruhrgebiets, am Kemnader Stausee, mitten im Naturschutzgebiet. Wir schaffen dort einen Dreiklang zwischen Kulturgenuss, gastronomischem Erleben und Kunsthandwerkermarkt.
Ein CENTRO für Kulturkonsumenten?
Nein, das Zeltfestival ist eher der Gegenentwurf zu den am Reißbrett entstandenen Betonwüsten. Wir bauen temporäre Städte, Städte auf Zeit. Der Erlebnishorizont ist ein ganz anderer, wenn man die Eindrücke eines Konzertes in den Minuten und Stunden danach in einer passenden Atmosphäre verarbeiten kann.
Manche werfen Ihnen vor, mit dem Zeltfestival nur Mainstream zu bedienen. Tut so ein Vorwurf weh?
Das tut nicht weh. Es gibt genug Veranstaltungen für jedermann. Wenn man ein neues Veranstaltungskonzept etablieren möchte, wird es zunehmend wichtiger, seinen eigenen Platz zu finden. Das schaffte Juicy Beats, das schaffte einst Bochum Total. Es gibt also viele Spartenveranstaltungen aber wenige Veranstaltungen, bei denen an einem Tag der Sohn, am anderen Tag der Vater hingeht. Der Vater kommt vielleicht zu Dieter Hildebrandt und Roger Willemsen, der Sohn guckt sich dann Culcha Cundela an. Unsere Piazza und auch die Zeltstadt soll etwas Einigendes schaffen.
Wo sind die Überschneidungen und wo sind die Abgrenzungen zu Bochum Total?
Die beiden Veranstaltungen sind inhaltlich komplett anders aufgehängt. Bochum Total ist ein Innenstadtfest, will jungen, progressiven Künstlern eine Heimat und eine Spielstätte bieten und ist zu einer Zeit entstanden, als Jugendkultur ansonsten an den Stadtrand ausgelagert wurde. Das Zeltfestival hat einen ganzheitlicheren Ansatz. Wir bieten etabliertere Künstler, es wird Eintritt genommen, insofern haben wir ein komplett anderes Konzept. Uns eint mit Marcus Gloria die Liebe zur Kultur. Und es gibt den einen oder anderen Künstler, der auf unserer Piazza auf der kleinen Bühne spielt und auch bei Bochum Total ein Forum gefunden hat.
Sie stehen sich also nicht im Weg?
Nein, beide Veranstaltungen beschränken sich ja in ihrem Einzugsbereich nicht nur auf das Stadtgebiet von Bochum. Im Ruhrgebiet und in NRW gibt es sicher Platz für 15 oder 20 verschiedene Festivalkonzepte.
Also ist Bochum der Nabel der Welt?
Sicherlich ist es wichtig, den Tourneestandort Bochum wieder in das öffentliche Bewusstsein zu etablieren. In den achtziger Jahren war das noch anders. Da antwortete jeder, der sich in Deutschland für Rockmusik interessierte: „Die Zeche in Bochum – klar, kenn ich.“ Der Standort Bochum hat inzwischen etwas gelitten, weil wir keine Spielstätten haben, die den gestiegenen Ansprüchen der Künstler gerecht werden. Inzwischen ist Oberhausen bei den Konzertagenten in England eine feste Größe. Insofern ist es wichtig, mit Bochum Total und mit dem Zeltfestival Ruhr den Tourneestandort Bochum zu festigen und auszubauen.
Ist das Ruhrgebiet anders als woanders?
Ohne mit Frank Goosen antworten zu wollen…
… Woanders ist auch scheiße.
Eben gerade nicht. Hier funktionieren viele Sachen, die woanders so nicht funktionieren. Wir haben zum Beispiel eine sehr intakte Metal-Szene.
Ist schließlich eine Montan-Region.
Genau. Vater macht Metall und Sohn daher auch. Insgesamt werden hier viele Musikfarben gefordert. Wir haben ein sehr kulturbeflissenes Publikum.
Hat sich seit der Loveparade etwas für die Veranstalter geändert?
Natürlich. So eine Tragödie möchte man nie nur ansatzweise erleben. Insofern werden alle Planungen auf ihre Sicherheit noch einmal mit den Fachämtern überprüft. Aber dies muss losgelöst vom Zeltfestival auch mit Augenmaß und ohne Hysterie geschehen. Wenn Flohmärkte zu Großveranstaltungen erklärt werden, besteht die Gefahr, kulturelles Leben zu behindern.
Sie sind im Musikmarkt tätig. Wie geht es der Musik wirtschaftlich im digitalen Zeitalter? Internet kills the Videostar?
Etablierte Künstler haben relativ wenige Probleme. Man hat sich dort andere Einnahmequellen erarbeitet. Schwieriger ist der Weg nach oben. Die Plattenfirmen verkaufen weniger und können somit weniger Geld investieren, um Talente zu entdecken und sie nach oben zu bringen.
Dabei soll die Kreativwirtschaft doch boomen?
Tatsächlich gibt es inzwischen den Begriff Kreativwirtschaft. Früher haben sich Wirtschaft und Kreativität ausgeschlossen. Früher nahm der Künstler die Plattenfirma zwar als Partner aber auch als Gegner wahr. Es gab den Slogan: „Major is Satan“. Die großen Plattenfirmen waren teuflisch. Inzwischen ist der Vermarktungsweg ein anderer. Musiker können ohne große Maschinerie ihre Musik selbst produzieren und vertreiben. Aber letztlich ist es auch heute schwierig, große Bekanntheit zu erlangen. Da braucht es neue Formen. Für Musiker wird es letztlich wichtig bleiben, gute Musik zu machen.
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