Das Hamburger Gängeviertel gilt als ein gelungenes Beispiel der Erhaltung öffentlichen Raumes. Die sogenannten Gängeviertel verschwanden seit dem 19. Jahrhundert sukzessive aus dem Bild der Hansestadt. 2009 sollte dem letzten Überrest mit Sanierungs- und Abrissarbeiten durch den holländischen Investor Hanzevast der Garaus gemacht werden. 200 KünstlerInnen und AktivistInnen stellten sich diesen Plänen entgegen und bewirkten mit ihren Aktionen schließlich, dass die Stadt das Viertel wieder zurückkaufte.
Einer der Aktivisten aus Hamburg ist Michael Ziehl, studierter Architekt und Stadtplaner sowie Mitautor des Buches „Mehr als ein Viertel“, eine Reflexion der vergangenen Jahre. Am 20.04. war Michael Ziehl im selbstverwalteten Nachbarschaftsladen Alsenwohnzimmer im Rahmen der Reihe „Interventionen - Stadt für alle“ zu Gast und gab kollagenhaft Kostproben aus dem im letzten Jahr erschienenen Buch:
Bereits 2008 entstanden Gruppen gegen Gentrifizierung wie z.B. „Es regnet Kaviar“ und das „Centro Sociale“. Als die Situation um das Gängeviertel akut wurde, trafen Gruppen mit verschiedenen Ansichten aufeinander. Einige wollten sofort handeln, andere dagegen zunächst theoretisch einen Plan zurechtlegen und so gestaltete sich die Kommunikation zunächst schwierig. Doch es fand sich ein gemeinsamer Nenner: das emotionale Zusammenleben, stets verbunden mit Kunst. Soliparties, Filmvorführungen und andere kulturelle Veranstaltungen zogen Besucher an. Die eigentliche Besetzung gestaltete sich in bester Untergrundmanier, eine Codesprache entstand, das Wort „Besetzung“ wurde bei einem offenen Fest, in dem alle leerstehenden Häuser mit Kunst gefüllt wurden, peinlichst vermieden, um nicht den Anschein zu erwecken, dass die Aktion aus der linksradikalen Szene entstanden sei. Die Schwarz-Grüne Regierung konnte sich nicht gegen die Aktivisten wenden, wollten sie sich nicht gegen ihr selbst gefordertes Kreativprogramm stellen. Mit Anekdoten aus dem täglichen Leben der Aktivisten, die sich bei kalter Wetterlage in der Wohnung mit der einzig warmen Dusche trafen und die Wahl zwischen verschieden zubereiteten Mahlzeiten hatten, schloss Ziehl die Lesung für ein Gespräch mit den Interessierten im Alsenwohnzimmer.
Zur Frage der Rezeption des Gängeviertels in der Öffentlichkeit berichtete Ziehl, dass selbst die Springer-Presse dem Gängeviertel positiv gegenüberstünde. Auch aus anderen konservativen Kreisen kam Zustimmung, da die historische Bedeutsamkeit der Gebäude und der Denkmalschutz auch für sie vor einer Privatisierung des Viertels gehen. Mittlerweile stehe man eher vor dem Problem, dass die Stadt die Aktionen im Gängeviertel für sich vereinnahmen und touristisch vermarkten möchte. Aus Leipzig kam sogar die offizielle Anfrage, ob man derartiges nicht auch in ihrer Stadt versuchen wolle. Wie das Gängeviertel organisiert sei und wie die Pläne für die Zukunft aussehen, brannte den meisten im Nachbarschaftsladen unter den Nägeln. Das Gängeviertel sei demokratisch organisiert, antwortete Ziehl. Entscheidungen werden auf einer Vollversammlung getroffen, bei der jeder mitstimmen darf, der dreimal anwesend war. Es gebe auch einen Verein mit Vorstand, der das institutionelle Gremium darstelle für Verhandlungen mit der Stadt. Mittlerweile gehe das Gremium über in die Genossenschaft, aber auch diese sei informell gebunden an die Vollversammlung. Da sehr viele Strömungen im Gängeviertel mit unterschiedlicher Motivation im Viertel angesiedelt seien, gelte für die Praktikabilität nicht der Konsensbeschluss, sondern die Abstimmung. Angelegt sei das Viertel auf Langfristigkeit. Es werde in Bälde saniert, damit dort Sozialwohnungen entstehen können. Sicherlich werde sich das Viertel dann verändern, doch der Übergang solle weich gestaltet werden.
Wichtig sei vor allen Dingen gewesen, dass man nicht wie früher gegen die Stadt gekämpft habe, sondern man versuchte ihr einen Schritt voraus zu sein, selbst Lösungen anbot, um so die Nachhaltigkeit zu garantieren. Die Diversität unter den Aktivisten habe trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten zur Produktivität beigetragen ebenso wie das Netzwerk „Recht auf Stadt“.
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