trailer: Frau Sunderbrink, die ganz große Party ist vorbei. Spürt Essen drei Jahre nach dem Kulturhauptstadtjahr noch einen Kater?
Eva Sunderbrink: Wenn mit „Kater“ Nachhaltigkeit gemeint sein soll, dann kann ich das nur bejahen. Auch drei Jahre nach der Kulturhauptstadt RUHR.2010 sind die Spuren des Großereignisses erkennbar. So konnten im letzten Jahr 1.376.566 Übernachtungen in Essen verzeichnet werden; dies sind 1,4 Prozent mehr als im Kulturhauptstadtjahr 2010. Diese Zahlen belegen, dass sich Essen mit seinem touristischen Angebot auch über das Ausnahmejahr hinaus bewähren konnte.
Macht jetzt jede Stadt im Revier wieder ihr eigenes Ding, oder hat der Geist der „Metropole Ruhr“ überlebt?
Diese Frage kann man nur mit einem „sowohl als auch“ beantworten. Zwar agiert jede Stadt vornehmlich für sich, doch es herrschen auch reger Austausch und Kooperation im Zusammenschluss der Metropole Ruhr. Auf großen Messen wie der ITB in Berlin ist die Essen Marketing GmbH zum Beispiel mit anderen Anschließern am Gemeinschaftsstand der Ruhr Tourismus GmbH vertreten.
Wie kann das kulturelle Leben in Zeiten kommunaler Finanzkrisen attraktiver gestaltet werden?
Ich denke, dass wir in Essen bereits über ein sehr attraktives Kulturleben verfügen. Neben Häusern von Weltruf wie dem Aalto-Theater, der Philharmonie oder dem Museum Folkwang gibt es hier eine ebenso lebendige und aktive Freie Szene. Wussten Sie zum Beispiel, dass wir mit dem „Soul of Africa-Museum“ über ein Voodoo-Museum verfügen, dessen einzigartige Kollektion es nirgends sonst auf der Welt gibt?
Ist Stadtmarketing überhaupt nötig?
Diese Frage kann für mich, als Geschäftsführerin einer Stadtmarketing-Gesellschaft, nur rhetorisch gemeint sein, oder? (lacht) Ich halte Stadtmarketing für überaus notwendig. Zum einen, um die Schönheit und Vielseitigkeit der Stadt nach außen zu tragen und somit zahlreiche Besucher in die Stadt zu holen, von denen dann auch die Gastronomie, Hotellerie und der Einzelhandel profitieren. Zudem tragen wir mit unseren Aktivitäten auch dazu bei, die Stadt für die Bewohner Essens attraktiv und lebenswert zu gestalten.
Leidet Essen, leidet das ganze Ruhrgebiet an Minderwertigkeitskomplexen?
Dies wird oft vom Ruhrgebiet und seinen Bewohnern behauptet. Wo bestimmt etwas dran ist, ist, dass Essen bis vor rund zwei Jahrzehnten nicht primär als Touristendestination bekannt war. Dies hat mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park aber eine Wende genommen, die entscheidend zum neuen Selbstbewusstsein der Region beigetragen hat.
Womit kann Essen strahlen?
Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll: Natürlich besticht die Stadt durch ihre herausragende Industriekultur. Leuchtturm ist dabei das UNESCO-Welterbe Zollverein. Wo einst Kohle gefördert wurde, befindet sich heute ein Zentrum für Kultur und Kreativwirtschaft, ein Highlight hierbei das Ruhr Museum in der ehemaligen Kokerei. Darüber hinaus verfügt Essen über eine unglaublich attraktive Kultur- und Entertainmentlandschaft, die für jeden Geschmack etwas bereithält. Wer seine Freizeit gerne im Grünen verbringt, kommt hier voll und ganz auf seine Kosten, denn Essen ist die drittgrünste Stadt Deutschlands. Als Freizeitdestination sei hier allen voran der Baldeneysee, auch die grüne Lunge Essens genannt, anzuführen. Hier kann man joggen, radfahren, inlinern, segeln oder einfach nur die unglaubliche Ruhe genießen. Weitere zentrale Grün-Highlights sind der Grugapark sowie der Stadtpark. Doch auch Shoppingfreunde werden in Essen fündig. Allein die Innenstadt verfügt über rund 700 Warenhäuser, Geschäfte und Boutiquen vom kleinen Geldbeutel bis hin zum hochpreisigen Segment. Kurz gesagt: Essen ist eine Stadt, in der es sich wunderbar leben lässt, und in die man jederzeit gerne wieder zurückkommt, wenn man sie einmal besucht hat.
Ist die Zeche Zollverein eine Investitionsruine?
Auf gar keinen Fall. Wie ich bereits vorhin gesagt habe, ist die Zeche Zollverein einer der Leuchttürme der Stadt, ja der Region. Sie ist eine von vier UNESCO-Welterben in NRW und steht wie kaum eine andere Zeche für den gelungenen Übergang vom Bergbau hin zur Industriekultur. Natürlich kostet es Geld, so ein riesiges Areal instand zu halten, doch der touristische Wert sowie die Bedeutung der Zeche für die Bewohner der Stadt sind meines Erachtens größer.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Freie Kulturszene?
Die Freie Kulturszene bereichert die Kulturlandschaft Essens ungemein und rundet sie ab. Sie ist quasi so etwas wie das Salz in der Kultursuppe. Manch große Künstler wie zum Beispiel Uwe Lyco bekannt in seiner Paraderolle als Herbert Knebel oder Hagen Rether haben ihre Karrieren in dieser Szene begonnen.
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