„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, hat der Philosoph Wittgenstein mal schlau festgehalten. Besonders tragisch trifft das auf die 10-jährige Denisa, die Protagonistin des Films „Die Königin der Stille“ zu. Der Film, der neben vielen anderen Filmen im Rahmen des Festivals gezeigt wurde, erzählt die Geschichte dieses taubstummen Roma-Mädchens in einer illegalen Barackensiedlung in einem polnischen Vorort. Er schildert die schwierige Lage der Roma in Polen: meist halten sie sich nur illegal auf, sie haben keine Arbeitserlaubnis und sind zur Bettelei verdammt, ihre Familien werden auf Müllhalden verbannt, politischem Druck und rassistischer Hetze ausgesetzt. Sie gehören schlichtweg nicht zu dieser Gesellschaft. Umso erstaunlicher ist diese Denisa, die weder sprechen noch hören kann, in dieser trostlosen Welt: sie ist eine Stumme unter Stummen, eine Ausgestoßene in der Welt der Ausgestoßenen.
Und das ist bezeichnend für die Situation der Roma in vielen europäischen Ländern. Diejenigen, über die sonst nur in Politik und Medien gesprochen wird, sollten beim 2. Dortmunder Roma Kulturfestival „Djelem Djelem“ im Depot auch zu Wort kommen. Vom 2.9. - 12.9. gab es an verschiedenen Orten Dortmunds kulturelle Veranstaltungen, politische Diskussionen oder Theater- und Filmaufführungen.
Abschließend fand im Dortmunder Rathaus die Diskussionsveranstaltung „Miteinander Reden – Voneinander Lernen“ statt, bei der ExpertInnen über die Situation der Roma in der Türkei informierten. Özcan Purçu ist der erste Roma, der es überhaupt geschafft hat, als Abgeordneter in das türkische Parlament einzuziehen. Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau und den anderen Anwesenden der Diskussionsrunde erzählte er von seinem steinigen Weg und seiner Kindheit, die der vieler Roma-Kinder ähnelt. So ist auch Purçu in Armut und Hunger aufgewachsen: „Wir sind durch Dörfer gezogen und haben dort Körbe verkauft. Und so haben wir unseren Lebensunterhalt verdient.“
Irgendwann wollte er dann zur Schule: „Bei Roma-Familien ist es oft so, das Kinder nicht zur Schule gehen“, so Purçu. „Es ging nur ums Überleben.“ Irgendwann konnte er seine Eltern dann aber doch davon überzeugen, wie er erzählt: „ Nachdem ich 15 Tage lang geweint hatte, war mein Vater dann doch überzeugt, dass ich unbedingt zur Schule gehen will.“ Als Roma-Kind war die Schullaufbahn für ihn ebenso steinig: „Da haben wir das erste Mal festgestellt, wie es ist, ein Außenseiter zu sein und nicht dazu zu gehören.“ Trotzdem besuchte er später noch die weiterführende Schule und studierte Verwaltungswissenschaft. Dass er schließlich für die kemalistische CHP ins Parlament einzog, ist für ihn sicherlich ein Erfolg – wenn auch eine Ausnahme. Denn noch immer müssen die meisten Roma-Kinder früh arbeiten gehen, sind daher systematisch von Bildung ausgeschlossen und bleiben Analphabeten, wie Hacer Foggo, Menschenrechtsvertreterin des „European Roma Rights Centre“ in der Türkei, berichtet. Gleichzeitig leben 95 Prozent der Roma außerhalb von normalen Arbeitsverhältnissen. Wege, Geld zu verdienen – wie Blumenverkauf oder Straßenmusik – sind zudem in vielen Städten verboten. Foggo berichtete auch über den Umsiedlungsprozess von Sulukule, dem ältesten Roma-Viertel Europas, bei dem die Roma aus der Stadt verdrängt wurden. Leider nur eine von vielen solcher Episoden in Europa.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bezeugen, was verboten ist
NRW-Kinopremiere: „Green Border“ von Agnieszka Holland mit Vorgespräch
Irrweg deutscher Migrationspolitik
„Blackbox Abschiebung“ in Düsseldorf – Spezial 09/23
Abschottung gegen Schutzsuchende
Vortrag über die Fluchtsituation auf der Balkanroute in Duisburg – Spezial 06/23
Vergessene Kapitel
„Revenants“ beim Favoriten Festival – Tanz an der Ruhr 09/22
Viel Kreatives
„Design Gipfel“ im Depot
Heilung und Zerstörung
„World Press Photo“-Ausstellung in Dortmund – Kunst 10/21
Der Wurm soll fressen
Trash Up! 5.0 im Dortmunder Depot – Spezial 11/20
Verhandlungssache
Nachtflohmarkt im Dortmunder Depot – Spezial 01/20
Wenn Datenberge erodiert sind
„Identität“ in Dortmund – Theater Ruhr 11/19
Weniger Konsum, mehr Input
#Rethink – 1. Nachhaltigkeitskonferenz in Dortmund – Spezial 09/19
Mehr als 1000 Worte
Rückblende 2018 im Dortmunder Depot – Spezial 07/19
Aus dem Herzen der Macht
„World Press Photo 19“-Ausstellung in Dortmund – Ruhrkunst 06/19
Was erreicht worden ist
Warum Nostalgie auch in die Zukunft weist – Spezial 01/25
Ehrung für ein Ruhrgebiets-Quartett
Verleihung des Brost-Ruhr-Preises 2024 in Bochum – Spezial 11/24
Klimaschutz = Menschenschutz
„Menschenrechte in der Klimakrise“ in Bochum – Spezial 11/24
Digitalisierung 2.0
Vortrag über KI in der VHS Essen – Spezial 10/24
Minimal bis crossmedial
Rekorde und Trends auf der Spiel Essen – Spezial 10/24
KI, eine monströse Muse
12. Kulturkonferenz Ruhr in Essen – Spezial 09/24
Wurzeln des Rechtsextremismus
Online-Vortrag „Ist die extreme Rechte noch zu stoppen?“ – Spezial 09/24
Wem gehört die Ökosphäre?
Seminar „Die Rechte der Natur“ in der VHS Dortmund – Spezial 05/24
Stimmen der Betroffenen
Vortrag über Israel und Nahost in Bochum – Spezial 04/24
Außerhalb der Volksgemeinschaft
Vortrag über die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit in Dortmund – Spezial 04/24
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
Unterschiedliche Erzählungen
Vortrag zur Geschichte des Nahostkonflikts in Bochum – Spezial 03/24
„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“
Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24