Erinnerungen an frühere Ruhrtriennale-Produktionen drängen sich ins Bewusstsein. Natürlich schwingt dabei auch ein klein wenig Nostalgie mit. Schließlich endet mit seiner dritten Ruhrtriennale-Saison, die der polnische Theatermacher Krzysztof Warlikowski mit seiner Inszenierung von Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ eröffnet hat, auch Johan Simons’ Intendanz. Aber letztlich ist es das Geschehen auf der Bühne, das zu Reminiszenzen einlädt.
Schon „Das Rheingold“ und „Alceste“, Johan Simons’ große Opern-Inszenierungen der beiden vergangenen Jahre, setzten vor allem auf psychologische Genauigkeit. Die Größe des Raums schien immer wieder zusammenzuschrumpfen, bis sich der Blick des Publikums auf kleinste Details fokussierte. Die Beben fanden innerlich und nicht äußerlich statt. Diesen Ansatz greift Warlikowski konsequent auf und stellt Debussys zwischen Märchen und Familienmelodram schwankende Oper einen gesprochenen Prolog voran. Der Bariton Leigh Melrose, der im Folgenden Mélisandes vor Eifersucht rasenden Ehemann Golaud spielen wird, wendet sich direkt ans Publikum: „Es endet immer auf dieser Weise. Ein wenig Magie, ein wenig Rauch. Etwas verschwindet.“
Die aus Christoffer Boes Film „Reconstruction“ entlehnten Worte verschieben die Wahrnehmung. Zum einen in Richtung film noir: Ein Mann begegnet einer mysteriösen Schönheit und gerät in ihren Bann, mit tragischen Folgen für alle. Zum anderen stellen sie das Folgende als Fiktion aus, als Variation bekannter Motive, die das Wesentliche am Ende eher verdecken als erhellen.
Debussys Märchenreich Allemonde, das immer schon ein Allerweltsort war, zerfällt in Malgorzata Szczęśniaks Bühnenbild in drei Teile. Ganz links erzählt eine endlose Reihe von Waschbecken von Entwurzelung und Kälte. Das Verdrängte wird sichtbar in diesem Bild der Welt als Schlachthaus. Daneben steht eine Bar, deren vielfarbige Neonlichter die Verlorenen anziehen. Hier finden zunächst Golaud und Mélisande (Barbara Hannigan), später dann sie und ihr Schwager Pelléas (Phillip Addis) etwas Ruhe und Trost. Nur haftet den Beziehungen, die im Rausch bekräftigt werden, etwas Gefährliches an. Den größten Teil der Bühne nimmt allerdings ein herrschaftlicher Salon ein, samt holzvertäfelter Wand und großer geschwungener Treppe im Hintergrund. Hier signalisiert alles Ordnung und Klarheit. Doch beides hat König Arkel, der Großvater von Pelléas und Golaud, längst verloren. Diesem Widerspruch von Schein und Sein, in dem sich durchaus unsere heutige europäische Wirklichkeit spiegelt, gibt Franz-Josef Selig mit seinem den Raum wunderbar ausfüllenden Bass einen zutiefst berührenden Ausdruck.
Die fiebrige Intensität von Claude Debussys Komposition, die Sylvain Cambreling zusammen mit den Bochumer Symphonikern in all ihren Nuancen auskostet, um sie zugleich immer wieder herunterzukühlen, findet ihre Entsprechung im Spiel von Barbara Hannigan, Phillip Addis und Leigh Melrose. Alle drei bewältigen nicht nur ihre Gesangspartien mit einer berauschenden Brillanz. Sie entdecken in Debussys mythischen Figuren auch gewöhnliche Menschen mit ganz alltäglichen Ängsten und Zweifeln. Sie alle verzehren sich nach Liebe und werden doch von Zweifeln übermannt. Und in jeder Unsicherheit, in jedem Zögern, aber auch in jeder überstürzten Entscheidung liegt die Saat der Gewalt, die schließlich aufgehen wird. So seziert Warlikowski eine Gesellschaft, die sich langsam, aber sicher selbst zerstört.
„Pelléas et Mélisande“ | R: Krzysztof Warlikowski | Mus. Leitung: Sylvain Cambreling | Do 31.8., Fr 1.9., So 3.9. 19.30 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | www.ruhrtriennale.de
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