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GB 84
Foto: Birgit Hupfeld

„Ein System, das sich selbst versorgte“

27. Oktober 2016

Intendant Peter Carp inszeniert in Oberhausen die Welturaufführung von „GB 84“, einem dramatisierten Roman von David Peace – Premiere 11/16

trailer: Herr Carp, warum muss man heute die mehr als 30 Jahre zurückliegende Niederlage der Gewerkschaften in Großbritannien thematisieren?
Peter Carp: Einmal, weil Geschichte immer spannend ist. Zum anderen, weil unsere Gegenwart sich durch Geschichte entwickelt hat und durch die Geschichte bedingt ist und vieles, was wir heute für normal halten, vor 30 Jahren überhaupt noch nicht normal war.

Warum musste es so kommen?
Die englischen Kohleminen waren damals staatlich, die Elektrizität war staatlich, selbst ein Großteil der Stahlindustrie war das ursprünglich auch. Es war ein System, das sich selbst versorgte, und das Ziel war immer die Selbstversorgung und eben Arbeitsplätze zu schaffen. Auf Profite wurde dabei nicht geschaut. Die neue Politik von Margaret Thatcher wollte das System dann privatisieren und konnte das aber nur, wenn es auch profitabel war. Nur die Minen, die Profit machten, wurden erhalten. Das hat sehr viele Menschen ihre Arbeitsplätze gekostet. Aber das war ein sehr hartes und brutales Vorgehen, mit dem die Regierung das gemacht hat. Ganz anders als hier in Deutschland, wo man diesen Prozess sehr viel weicher vollzogen, alles viel sozialverträglicher gelöst hat. Trotzdem war das hart, aber längst nicht so hart wie in England. Ich finde, das ist sehr lohnend, sich anzuschauen, weil man auch sein eigenes Denken daran überprüfen kann und seine eigene Urteilsfähigkeit. Wir finden es heute völlig normal, immer zu fragen, ob das profitabel ist oder nicht – das ist aber nicht gottgegeben, sondern das ein Credo der Wirtschaftspolitik à la Margaret Thatcher oder Helmut Kohl.

Im Ruhrgebiet haben sich seit 1984 auch tausende Arbeitsplätze abbauen lassen – ohne Zwischenfälle. Und es ging um mehr Profit nur durch Fabrikverlagerung.

Peter Carp
Foto: Britt Schilling

Zur Person:

Peter Carp ist in Stuttgart geboren und studierte in Hamburg und Berlin Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften, Publizistik und Medizin. In den 80er Jahren wurde er Dramaturg an der Berliner Freien Volksbühne und begann als Regisseur zu arbeiten. 2004 bis 2007 war er als Schauspieldirektor am Luzerner Theater. Seit 2008 ist er Intendant des Theaters Oberhausen.

Ja, ich finde trotzdem, soweit ich das beurteilen kann, dass das auch im Ruhrgebiet, sehr viel weicher und sozial verträglicher als damals in England gelaufen ist. Wir hatten neulich Besuch von einem englischen Soziologen aus Yorkshire, eben der Gegend, wo ein Großteil der Kämpfe in den 1980er Jahren stattgefunden hat, und der war voller Bewunderung für das Modell Ruhrgebiet. Dass es die ganzen Zechenanlagen noch gibt, dass die jetzt von der Kultur genutzt werden. In England ist das ja alles total verfallen, und nach der Massenarbeitslosigkeit haben viele von den ehemaligen Bergleuten auch nie wieder einen Job gefunden.

Die innerliche Hauptlast der Welturaufführung tragen die beiden Romanfiguren Peter und Martin, die Arbeiter?
Ja, wobei wir die zu einer Figur zusammengezogen haben. Martin ist die Sicht der Betroffenen, der Streikenden, der von Arbeitslosigkeit bedrohten Bergarbeiter. Dann gibt es noch andere Sichtweisen – das ist ja ein halb-dokumentarischer Politthriller – wie die Sicht der Gewerkschaft, insbesondere der Gewerkschaftsführung von Arthur Scargill, der ein sehr linker, sehr engagierter, militanter Gewerkschaftsführer der National Union of Mineworkers war. Und es gibt die Sicht einer Figur, die im Stück Sweet heißt. Stephen Sweet gab es wirklich, der hatte nur einen anderen Namen. Das war ein reicher Geschäftsmann, der für Margaret Thatcher als Strippenzieher gearbeitet und die Propagandaschlacht geführt hat – der hat im Hintergrund operiert und auch ohne Gage für die Eiserne Lady gearbeitet. Dazu muss man bedenken, dass die Berichterstattung in den 80er Jahren über die Auseinandersetzung in England sehr einseitig war. Die BBC hat sich später auch bei der Gewerkschaft entschuldigt. Das Gleiche hat der Guardian gemacht. Es wurde ja wirklich so dargestellt, als ob die ganze Gewalt ausschließlich von den Bergarbeitern ausging. Dabei ging sie zunächst einmal von der Polizei aus. Und das hat Reaktionen der streikenden Bergleute darauf erzeugt, und es ist wirklich zu großen bürgerkriegsähnlichen Szenen gekommen und zu zehn Toten. Das war natürlich eine Riesensauerei.

Haben wir uns denn heute politisch, nicht ökonomisch, so weit vom Dasein als Streichholzmännchen entfernt?
Na ja. Vieles von dem, was die Gewerkschaft, was Scargill damals befürchtet hat, dass sich unser gesamtes Leben ändern wird, dass die Tradition des Bergmannsleben wegbrechen wird, unsere sozialen Beziehungen sich verändern, wenn alles nur noch unter dem Begriff des Profits gesehen wird, und nicht mehr unter der Prämisse, dass Menschen wenigstens eine sinnvolle Arbeit haben – das ist ja alles eingetreten. Das ist ja dieser Neoliberalismus von Thatcher, oder wie Kohl es formulierte: die geistig-moralische Wende. Das klang dann etwas geistvoller, ist aber im Prinzip genau dasselbe.

Und seit dem Orwell-Jahr haben sich die Kapitalismus-Strategien ja noch weiterentwickelt. In Big Brother-Zeiten von Facebook oder Google…
Das kann sein. Ich glaube, dass wir da im Moment noch in einer liberalen Phase leben. Aber wir haben diese Durchökonomisierung des Lebens. Wir haben ja inzwischen auch kaum mehr einen Begriff davon, was eigentlich ein Streik bedeutet. Natürlich wissen wir, was ein Streik ist, aber wie das funktioniert, wann es Warnstreiks gibt, wann es Erzwingungsstreiks gibt, das ist uns allen nicht bewusst. Eine kämpferische Gewerkschaft, die eine Regierung in Frage stellt, die kennen wir eigentlich nicht mehr. Wir kennen höchstens noch die Lokführergewerkschaft, die den Bahnverkehr lahmlegt.

Oder Massenkrankschreibungen.
Jetzt gab es gerade diese Massenkrankschreibungen als Streik. Bei Margaret Thatcher ging es aber nicht nur um Privatisierung, es ging auch darum, die Macht der Gewerkschaften endgültig zu brechen. Die Zeit der Arbeiterbewegung und die Mitsprache der Arbeiter an der Politik des Landes – diese Zeit musste endgültig vorbei sein.

Warum werden immer mehr Romane für das Theater adaptiert?
Das ist eine gute Frage. Wir lesen und lesen und lesen und sind immer auf der Suche nach guten Theaterstücken. Wir geben sogar öfter Schreibaufträge oder bestellen Uraufführungen, die spielen wir dann natürlich auch. Aber es gibt einfach auch immer wieder tolle große Stoffe, die wir leider nicht in dramatischer Form vorfinden. 

„GB 84“ | R: Peter Carp | 4.(P), 5., 9.,. 11.11., 10.12. je 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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