Reinhard Wiesemann hat in Essen Sachen bewegt. Der einstige IT-Tüftler aus Wuppertal hat seit 2004 sieben Immobilien in der Stadt als „Kreativen-tauglich“ auserkoren, ihr Inneres entsprechend angepasst und Konzepte entwickelt, die für Publikum und langfristig auch für Rentabilität sorgen. Ehemalige Leerstände wurden damit zu Projekt-, Seminar-, Ausstellungs- und Übernachtungsräumen. Mit eigenwilligen Namen und Abkürzungen wie „UnPerfekthaus (UpH)“, „Generationenkulthaus“ (GeKu-Haus), „ClubShaus“ oder „City Messehalle“ verändert ein ganzes Viertel sein Gesicht. Die nördliche Essener Innenstadt, lange im Abseits der benachbarten Kettwiger Einkaufsmeile, mausert sich zusehends zum außergewöhnlichen Kreativquartier.
trailer: Herr Wiesemann, müsste das UnPerfekthaus größer werden?
Reinhard Wiesemann: Das wäre gut! Es könnte doppelt so groß sein. Wir erweitern ja nebenan auch gerade, zwar nicht für Ausstellungsflächen, es entsteht ein Hotel. Da wir überregional bekannt sind, ziehen wir zu manchen Events Besucher aus Berlin oder München an. Die können bald gleich nebenan übernachten. Dort planen wir z.B. auch Themen-Wochen für Top-Spezialisten. Viele von ihnen haben nämlich in ihrem Unternehmen niemanden mehr, mit dem sie sich fachlich austauschen können.
Wie erreicht man diese Spezialisten?
Über die Fachmedien. Eine Woche wäre z.B. nur Java-Spezialisten vorbehalten. Die beinhaltet keine Konferenz, kein Seminar. Jeder arbeitet an seinem Thema weiter, weiß aber, dass er fachlich lauter Kollegen um sich hat, die ihm in der einen oder anderen Sache weiterhelfen können – und umgekehrt. Ich kann mir direkt vorstellen, dass man sich die komplizierten Aufgaben extra für die entsprechende Woche hier im Hotel aufhebt, weil man dann bestimmt jemanden trifft, der mal ein ähnliches Problem bearbeitet hat und schon die Lösung kennt. Eine andere Idee ist, den vielen Gruppen, die sich über das Internet ein gemeinsames Interesse bilden, einen Ort zu bieten, falls sie sich irgendwann mal live treffen wollen. Gerade im Computerbereich gibt es da einige.
Die Software-Welt scheint insgesamt Wegbereiter oder auch Vorbild für Ihre Ideen zu sein.
Genau richtig erkannt. Ein guter Programmierer ist schon fast so etwas wie ein guter Fotograf, denn er überträgt Strukturen aus der realen Welt in die virtuelle. Doch der eine Programmierer guckt sich die Organisation einer Firma an und macht das Programm genau dazu passend. Das würde ich nicht so machen. Besser ist es, der Programmierer überlegt sich, wie die Struktur sein sollte und erstellt eine daraufhin ausgerichtete Anwendung, die die reale Welt übernehmen muss. Das Programm ist die Hilfe, um die ausgedachte Organisationsstruktur auch in die reale Welt zu bringen. Die reale und die virtuelle Welt müssen zusammen passen. Das Problem kann auf der oder auf der anderen Seite liegen.
Zum Beispiel Platzprobleme in der realen Welt.
Da das UnPerfekthaus voll ist, weichen wir jetzt in die City Messehalle aus, wo auch Märkte veranstaltet werden. Wir wollen uns auch an die großen Veranstaltungen auf der Messe Essen ankoppeln. Zu den Internationalen Spieletage machen wir „Essen spielt“, d.h. wir treiben das Messe-Thema in die Stadt hinein. Davon verspreche ich mir sehr viel, auch lokale Geschäfte sind dabei.
Wie gut gelingt es bei Ihren anderen Projekten, alle Räume an den Mann oder die Frau zu bringen?
Mit meinem Konzept vom Clubshaus, in dem ich Räume an Gruppen und Vereine vermieten wollte, die in der Innenstadt einen ständigen Treffpunkt haben wollen, lag ich wohl falsch. Da mache ich jetzt ein Low-Budget-Hotel draus, in dem Gruppen günstig übernachten können. Auch die Ladengemeinschaft im Generationenkulthaus, bei der sich viele Existenzgründer die gesamte Fläche teilen, hat sich so alleine nicht bewährt. Daher eröffnen wir als Zugpferd im vorderen Bereich ein wunderschönes Café.
Innovationen im virtuellen Bereich verändern auch die reale Welt. Illustr.: Marc Haarmann
Sind im GeKu-Hau alle Wohnungen und WG-Zimmer vermietet?
Die WGs sind alle vermietet. Auch die kleineren Wohnungen gehen gut weg, nicht so die größeren teureren. Die unterteile ich jetzt in WG-Zimmer. Dadurch sind die ersten beiden jetzt voll.
Sie mussten zwischendrin die Miete erhöhen …
Der ursprüngliche Kostenansatz im GeKu-Haus war ein bisschen blauäugig. Von den Baukosten her ist es sehr gut gelungen, jeder andere baut wahrscheinlich teurer, aber ich dachte, dass es noch kostengünstiger ginge.
Sind Ihre baulichen Investitionen auch von dem Gedanken getrieben, dass der reine Euro in Zukunft möglicherweise immer weniger wert ist?
Ich habe immer mehrere Gedanken gleichzeitig. Dieser ist bestimmt nicht der maßgebliche, aber ich glaube nicht, dass es verkehrt ist, in Immobilien anzulegen. Aus dem UnPerfekthaus werde ich wahrscheinlich eine Stiftung machen. Das ist aber noch nicht spruchreif. Generell finde ich es gut, Dinge anzulegen, die selbst lebensfähig sind. Ein Zuschussbetrieb ist nichts Erstrebenswertes, denn wenn der, der immer Geld rein tut, das Zeitliche segnet oder sich was anderes überlegt, stirbt die Sache. Auch das UnPerfekthaus soll Gewinn machen – ein schwerer Weg, doch wir sind kurz davor.
Durch die Besucher?
Und durch die Firmen, die hier ihre Veranstaltung begehen. Viele Unternehmen machen hier Seminare oder Betriebsversammlungen …
... obwohl es hier so unordentlich ist.
Ist es ja gar nicht. Das UnPerfekthaus hat zwei Gesichter: Wir unterscheiden zwischen Fach- und Projekträumen. Projekträume sind an Kreative übergeben und teilweise ziemlich unordentlich. Fachräume verwalten wir selbst. Darin wird professionell geputzt und regelmäßig renoviert – ideal für alle, die aus ihrer normalen Business-Umgebung mal raus wollen. In einem Firmengebäude, in dem man von Montag bis Freitag Perfektion leben muss, kann man nur schwer gleichzeitig das Kreative leben, brainstormen und querdenken. Deswegen sind Think Tanks von großen Unternehmen auch immer außerhalb. Viele Unternehmen können so eine Umgebung aber nicht aus eigener Kraft aufbauen. Die Vielfalt eines UnPerfekthauses bekommen sie nicht hin, weil immer ein Chef drüber ist und viel zu viel vorgegeben wird. Das Gefühl von Freidenken kann nicht entstehen. Und so sind wir für viele Firmen ein ausgelagerter Kreativort.
Sie selbst können das wahrscheinlich am wenigsten nutzen, weil Sie hier ständig angesprochen werden. Trotzdem haben Sie im Mehrgenerationenhaus ein eigenes Appartement.
Stimmt, und da bin ich momentan 90 Prozent meiner Zeit – eine interessante Erfahrung, denn mein ganzes Leben habe ich immer am Stadtrand gewohnt. Da hatte man eigentlich immer nur Termine, denn um jemanden zu treffen, musste man sich verabreden. Wohnt man aber in der Innenstadt, kennt man nach einer Weile ganz viele Nachbarn und alles ergibt sich spontan: Man tritt aus dem Haus, trifft wen, entschließt, gemeinsam wohin zu gehen. Im Grunde ist das so, wie ich als Jugendlicher gelebt habe: ohne Auto, einfach aus dem Haus raus, spontan Freunde treffen, gemeinsam was machen. Dieses Lebensgefühl habe ich jetzt wieder, ein gänzlich unerwarteter Effekt.
In der Villa Vogelsang, wo Sie in einer Hausgemeinschaft im Grünen wohnen, sind Sie also immer seltener. Kommen Sie denn noch dazu, sich zu erholen oder ist das nicht nötig?
Doch. Ich habe zwei Lebensarten: Wenn ich in Essen bin, tue ich unheimlich viel, habe viele Projekte und jede Menge toller Gespräche, lerne ständig dazu. Im Winter bin ich aber immer vier bis fünf Monate in Florida. Da lebe ich ganz ruhig und beschaulich und kenne dort auch nur ganz wenige Leute.
Kommen Ihnen da die Ideen?
Die Ideen kommen ständig. Da ist es schwierig mit der Auswahl, denn es gibt so viele gute. Bei der Art von Arbeit, die ich mache, gibt es eigentlich auch kein „fertig“. Auf dem Weg zu diesem „fertig“-Zustand hat sich schon so viel an Neuem ergeben, dass aus dem einen Projekt schon drei geworden sind. Das überlappt sich, geht ineinander über. Fertig ist nie etwas. Wenn ich hier heute Abend putze und schneller fertig bin, kann ich eher nach Hause gehen. Wenn ich meine Sachen schneller mache, entstehen auch schneller neue Sachen.
Also besser langsam machen?
Langsam macht auch keinen Spaß. Auf die richtige Geschwindigkeit kommt es an. Man darf nicht glauben, dass, wenn man etwas schneller macht, man auch schneller fertig ist. Man ist dann nur schneller an was Neuem dran. Dann hat man ein unruhigeres Leben.
Lesen Sie auch Teil I und III der trailer-Interviewreihe.
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