In den vorherigen beiden Teilen unserer Interview-Serie zur „Neuen Urbanität“, die wir mit einem ausführlichen Gespräch mit Unperfekthaus-Gründer Reinhard Wiesemann einleiten, ging es um die Entstehung der Projekte im Essener Norden. Wie kam Reinhard Wiesemann selbst aber auf die Idee eines Kreativen-Kosmos? Dies verrät er im letzten Teil des trailer-Interviews.
trailer: Herr Wiesemann, bei dem Ideenreichtum rund um und im Unperfekthaus: Passt es da vielleicht auch, eine Institution zu gründen, bei der manche Ideen auf andere übertragen werden?
Reinhard Wiesemann: Nein, so ist es nicht. Das würde mich ja ins Zentrum setzen. Außerdem kommt nicht alles von mir. Hier in der City Nord ist ein Umfeld von vielen ideenreichen Leuten, die sich kennen, austauschen, so dass auch immer wieder was entsteht. Ich bekomme unendlich viele Ideen in Gesprächen, in denen mir jemand etwas nahe legt, empfiehlt oder kritisiert, über das ich dann nachdenke und vielleicht auf eine ganz andere Idee komme. Oder man schreibt etwas und erhält ein Feedback, das einen wieder auf neue Ideen bringt. Dieser Prozess ist wunderschön, wie ein buntes Blumenmeer, wo alles Mögliche am Wachsen ist. Man darf nur nicht versuchen, alle Blumen zu pflücken. Das geht nicht.
Und dieses schöne Erleben hatten Sie in Ihrer Elektronikfirma, die Sie früher führten, nicht?
Da hatte ich es auch, aber eingeschränkt, d.h. nur im technischen Bereich. Auch da habe ich immer wieder neue Sachen gemacht, immer überlegt, wie man was besser machen kann. Heute mache ich das in gesellschaftlichen Projekten.
Wie ist es zu dieser Verlagerung gekommen?
Das hat persönliche Gründe. Ich war früher sehr ängstlich, habe mich sehr hinter meinem Lötkolben verkrochen. Ein richtiger Nerd, aber auch ein schönes Leben: Ich habe programmiert, Geräte gelötet, Messgeräte aufgebaut, Experimente gemacht, Schaltpläne gezeichnet – kann ich heute noch aus dem Kopf. Irgendwann habe ich die Angst vor Menschen verloren. Parallel kam das Bedürfnis, nicht mehr nur mein ganzes Leben mit Technik zu arbeiten. Auf halbem Weg habe ich das Linux-Hotel gegründet. Das ist mit seinen Schulungen für freie Software, Programmierungen, Administration immer noch sehr technisch, ...
... aber da kommen schon Menschen zusammen.
Genau, und im Unperfekthaus geht es um Menschen pur, um Kreativität und Freiheit. Das ist eine persönliche Entwicklung, die sich auch in den Projekten zeigt.
Wodurch ist die Angst vor Menschen weggegangen?
Mir wurde einfach klar, dass gar nichts Unangenehmes passieren kann. Denn entweder bekomme ich Anerkennung, was gut ist. Oder ich werde kritisiert. Diese Kritik hilft mir entweder weiter, und ich bedanke mich dafür, oder ich bin einfach anderer Meinung. Alle drei Fälle sind nicht schlimm. Kein einziger Ausgang des Gesprächs kann negativ sein. Man darf nur keine Angst davor haben, dass einem Fehler nachgewiesen werden.
Was ist mit Neidern, die einem etwas reindrücken, in der Absicht zu verunsichern?
Das entlarvt sich ganz schnell. Außerdem sehe ich das ein bisschen buddhistisch: Im Grunde verfolgt jeder mit seinem Tun positive Ziele. Ob ich mich am Kopf kratze, weil ich denke, dass es mir nach dem Kratzen besser geht, oder mir einen Kaffee hole. Immer stehen positive Ziele dahinter. Selbst der Mörder glaubt, dass es ihm nach dem Mord besser geht. Bei jemandem, der aus Neid agiert, finde ich es eigentlich schade, dass er es nicht besser hinbekommt. Er verfolgt ein positives Ziel, ist der Meinung, dass es ihm besser geht, wenn er mich runtermacht, hat aber, denke ich, nicht verstanden, dass es ihm noch besser ginge, wenn er mich stehen ließe oder wir sogar gemeinsam etwas Positives machten. Das ist eine Denkweise, die ich sehr verinnerlicht habe, aber manchmal ist man doch ganz schön verärgert.
Aber hier im Unperfekthaus verstehen sich alle.
Nö, überhaupt nicht. Das ist gar kein Ziel. Verrückt: Wir leben in einer Zeit, in der Gemeinschaft und Übereinstimmung für besonders erstrebenswert erachtet wird. Alle sollen lieb sein und sich einigen. Individualität und eigene Wege zu gehen wird eher als Defizit betrachtet. In Mailinglisten oder auch persönlich gibt es immer wieder Diskussionen, in denen Leute beklagt werden, die bei einer Sache nicht mitmachen, sich nicht engagieren. Als ob das Gemeinsame höherwertig wäre. Dagegen wehre ich mich. Einstein war bestimmt kein Teamplayer. Teams werden sich oft nicht einig oder einigen sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Entscheidungen müssen in einem Kopf fallen. Beim Brainstorming ist der Einzelgänger aber im Nachteil, denn ich kann erst dann zu vernünftigen Entscheidungen kommen, wenn mir die Alternativen klar sind. Auch wenn ich einen sehr leistungsfähigen Denkapparat habe, bringt mich der alleine nicht zu den besten Ergebnissen. Man kriegt die Vielfalt nicht hin, auf ganz viele Gedanken komme ich gar nicht. Es ist Gold wert, wenn ganz viele Leute Input liefern. Die Entscheidung muss dann aber in einem Kopf fallen.
Meine Projekte gehe ich immer ganz offen mit einer Webseite an, auf der ich aufschreibe, wie weit ich bisher gedacht habe. Dann versuche ich per Mailingliste möglichst viele Leute zur Diskussion anzustoßen. Durch dieses schriftliche Hin- und Herdenken kommt man auf eine höhere Ebene. Entsprechend aktualisiere ich die Webseite. Dann laufen wieder Diskussionen über die Mailingliste. Anschließend wird die Webseite wieder aktualisiert.
Ich sage von vorneherein: „Das ist mein Projekt und ich freue mich über jeden, der hilft, aber am Ende entscheide ich.“ Hört sich anfangs abschreckend an, aber nur mit dieser Voraussetzung kann es anschließend auch weitergehen. Nachdem man alles gehört hat, fällt es gar nicht schwer, eine Entscheidung zu treffen. Es fällt auch nicht schwer, sich unsicher zu zeigen, weil von vorneherein klar ist, dass man trotzdem entscheidet. In vielen Firmen ist es ein Problem, dass der Projektleiter sich nicht traut, Schwächen zuzugeben, weil er fürchtet, entmachtet zu werden. Würde ihm seine Entscheiderrolle keiner streitig machen, könnte er offen sagen: „Ich habe keine Ahnung, gebt mir mal ein paar Tipps.“ Oder auch „Letzte Woche habe ich das so gesagt, aber inzwischen sehe ich das anders.“ Man sollte es zum Prinzip erklären, ganz offen seine Meinung zu ändern. Wenn man seine Meinung nur heimlich ändert, erzeugt man eine Stimmung um sich herum, wo das jeder einzelne auch macht.
Die Einzelgänger muss man heutzutage in Schutz nehmen. Die Gemeinschaftsleute stehen immer automatisch positiv da. Ich sehe z.B. keinen Vorteil darin, wenn zwei Leute, die verschiedene Wege gehen, sich auf einen Weg einigen. Das ist nicht immer ein Fortschritt. Es kann durchaus sein, dass es besser wäre, wenn die beiden Wege weiterhin parallel liefen, die Betreffenden sich gegenseitig über ihre Erfolge informieren, voneinander lernen. Auf diese Weise werden nämlich zwei Wege durchgetestet. Und das bringt mehr Erkenntnisse, als wenn zwei Leute einen Weg gehen.
Ist im UpH noch nie jemand hergekommen und hat gesagt: „Herr Wiesemann, der muss raus, der macht alles kaputt!“
Das haben wir auch schon gehabt. Damals ging es um Stilfragen. Zwei Künstlerinnen, die sich hier im Unperfekthaus sauwohl fühlten, total begeistert, endlich mal ihren Ideen nachgehen und Publikum zu haben: Alles war wunderbar, bis sie auf einen anderen Künstler stießen, der ihnen gar nicht zusagte. „Mit dem nicht unter einem Dach!“, haben sie mir gesagt, und: „Entweder der oder wir.“ – „Ihr könnt gerne alle bleiben“, sagte ich. „Das Unperfekthaus ist eine Vielfalt, keine Einheit. Wir haben keinen Stil des Hauses. Was der macht, ist legal, kreativ und interessant. Was Ihr macht, ist legal, kreativ und interessant. Wen das stört, der muss woanders hingehen.“ Die beiden Damen konnten das nicht tolerieren und sind gegangen. Der andere ist geblieben. Für mich ist es das Faszinierende, wenn ganz verschiedene Leute zusammenkommen. Man muss sich nicht immer einigen.
Lesen Sie auch Teil I und II der trailer-Interviewreihe.
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