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„Jede Ente hatte an der Antenne ’nen Trauerflor für Ohnesorg dran“
Foto: Francis Lauenau

„Elitäre Sprache ärgert mich“

29. November 2012

Peter Möbius über Theater und Politik im Ruhrgebiet gestern und heute – Über Tage 12/12

trailer: Herr Möbius, wieso leben Sie ausgerechnet in Unna?
Peter Möbius:
Geboren bin ich in Berlin. Mein Vater kam nach dem Krieg als Siemensianer nach Oberbayern. Ich habe da das Bayrische lieben gelernt. Mein Bruder Rio mochte es dort nicht. Der hatte immer Angst vor den Bergen. Weitere Stationen meines Lebens waren Kurpfalz, Frankfurt, Nürnberg. Ich bin viel rumgekommen. Schwaben hat mir am allerwenigsten gefallen. Später habe ich in Stuttgart an der Akademie für Bildende Künste bei Gerhard Gollwitzer und Gunter Böhmer studiert. Mit Andreas Weißert habe ich zu jener Zeit angefangen, Theater zu spielen. Der wurde 1975 in Dortmund Schauspieldirektor und hat mich hierhin gelotst. Ich wollte zu jener Zeit weg von Fassbinder in Frankfurt, weil es die Hölle war, und so habe ich sofort zugesagt.

Das Hoffmanns Comic Teater ist inzwischen Legende.

Peter Möbius
Foto: Presse
Peter Möbius (71) ist Bühnen- und Fernsehautor, Zeichner und Bühnenbildner.

Wir konnten damals beim Intendanten sehr gute Konditionen herausschlagen. Die Schauspieler wurden angemessen bezahlt und konnten trotzdem selbstbestimmt arbeiten. Ich war zwar der nominelle Leiter. Entscheidungen hat aber das Kollektiv getroffen.

Aber das Ruhrgebiet ist doch nicht der Nabel der Revolution?

Doch, der größte Arbeiteraufstand der deutschen Geschichte nach den Bauernkriegen war die Märzrevolution 1920. Hoffmanns Comic Teater erzählte mit seinem Stück „Märzstürme“ davon. Wir sind zu den Originalschauplätzen gefahren und haben damals noch Zeitzeugen gesprochen. So habe ich das Ruhrgebiet kennengelernt. Irgendwo in Essen hat uns damals eine Frau erzählt: „In der Schule, in der die Verletzten untergebracht wurden, konnte man knöcheltief im Blut waten.“

Sie mögen also das Ruhrgebiet?

Natürlich, in dieser Region vollzieht sich ein ungeheurer Wandel. Als ich hierhin gekommen bin, waren noch die meisten Bergwerke und Hütten in Betrieb. Jetzt ist alles stillgelegt. Man fragt sich, wovon die Leute hier leben. Dortmund soll inzwischen der zweitgrößte Standort für Hightech sein. Wegen der Industrialisierung ist hier ein neuer Menschenschlag entstanden. Durch die Arbeit unter Tage und auf der Hütte musste man anders miteinander umgehen, eben nicht so grob. Wenn einem der Kumpel von der letzten Schicht nicht gesagt hat, dass der eine Stempel mürbe ist und nichts mehr trägt, war man geliefert. Man war auf die Solidarität angewiesen.

Ist das nicht nur Klischee?

Nicht nur. Da gibt es die Geschichte von dem Bergmann, der Sylvester 1930 auf das Stahlwerk Phoenix geklettert ist und dort reingesprungen ist als Protest gegen die Arbeitslosigkeit. Der erste Kriegsgefallene 1914 in Dortmund war ein Engländer. Der lag hier im Krankenhaus. Als der begraben wurde, sind tausende Dortmunder Frauen mit Blumen zu dem Begräbnis gegangen. Die Presse tobte: Verräter. Das war eine Friedensdemonstration. Ich finde es gut, dass viele Industriedenkmäler inzwischen erhalten werden.

Ist man als Altlinker nicht verbittert und überzeugt, dass heutzutage alles viel schlimmer ist?

Ich bin kein Altlinker und ich bin überhaupt nicht verbittert. Im Gegenteil. Was unsere Generation bewirkt hat, ist doch sehr beachtlich. Ich war am 2. Juni 1967 dabei auf dem Kudamm, bei der Anti-Schah-Demonstration, als der Benno Ohnesorg erschossen wurde. Die Veränderung in jenen Monaten hat man in den Knochen gespürt. Plötzlich gab es überall diese linken Kneipen, die mit Sperrmüll eingerichtet waren. Jede Ente hatte an der Antenne ’nen Trauerflor für Ohnesorg dran. Alle duzten sich plötzlich. Keiner trug mehr ’nen Schlips. Politisch hat sich doch inzwischen sehr viel verändert.

Das klingt nach einem „Aber“.

Ich bin eher enttäuscht von der Entwicklung, die die Kultur und speziell das Theater genommen hat. Die elitäre Sprache ärgert mich. Mit Hoffmanns Comic Teater haben wir immer Volkstheater gemacht, so wie Dario Fo. Der war unser Vorbild. Man muss die Inhalte doch den Leuten verständlich machen, die es betrifft. 1964 sind wir mit Traktor und umgebauten Bauwagen einen ganzen Sommer durch Oberbayern gezogen. „Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück. Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss.

Zum Schluss noch eine nervige Frage: Kann man unter einem berühmten kleinen Bruder leiden?

Nach seinem Tod vielleicht. Weder mein Bruder Gert noch ich sind als Erben geboren. Es war schwierig, die alten Feindschaften zwischen meinem Bruder Rio und seinen Mitmusikern von Ton, Steine, Scherben zu ertragen. Nach Rios Tod kamen viele mit alten Forderungen. Wir haben eine Zeile von Rios Lied „König von Deutschland“ an einen Elektronikmarkt verkauft, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland zwei weitere Jahre als Begegnungsstätte finanzieren zu können. Dafür wurden wir heftigst angefeindet.

Aber ich kann jetzt nicht von Kain und Abel berichten?

Überhaupt nicht. Mir ist 1996 sehr plötzlich mein Bruder und ein Künstlerfreund weggestorben. 1995 haben wir in Essen noch das Musical „Die Braut der Brüder“ zusammen gemacht. Wir haben die erste Beat-Oper uraufgeführt. Zu den „Märzstürmen 1920“ hat er wundervolle Lieder beigesteuert. Wir haben immer zusammengearbeitet und uns gegenseitig inspiriert. Er war ein begnadeter Musiker und Texter.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS

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