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Martin Müller-Reisinger ist die „Bestie von Langenfeld“
Foto: Jan Krämer

„Er hat sich ein Gebäude gebaut, in dem er sich bewegen konnte“

29. November 2012

Martin Kindervater inszeniert „Bartsch, Kindermörder“ in einem Oberhausener Bunker – Premiere 12/12

Oliver Reeses Stück „Bartsch, Kindermörder‒Eine Selbstdarstellung“ ist der Versuch, die Gedanken- und Gefühlswelt eines pädophilen Mörders zu erkunden. Wie kaum ein zweiter Serientäter erregte Jürgen Bartsch in den 60er Jahren das deutsche Medieninteresse. Der Metzgergeselle aus dem Ruhrgebiet hatte vier Jungen entführt, misshandelt und auf grausame Weise ermordet. In der Presse als „Bestie von Langenberg“ betitelt, überraschte er die Öffentlichkeit durch sein höfliches Auftreten und zahlreiche intelligente Reflexionen seiner Sexualmorde. Nicht zuletzt deshalb hält die Faszination am Fall Bartsch bis heute an. Martin Kindervater inszeniert die Geschichte jetzt in einem Bunker.

trailer: Herr Kindervater, ein Stück über die „Bestie von Langenfeld“ wie passt das in die Adventszeit?
Martin Kindervater:
Das ist eine berechtigte Frage. Es ist tatsächlich so, dass die Adventszeit eine Zeit der ganz betonten Harmonie ist. Die Familien wollen es sich auf Teufel komm raus gemütlich machen. Es gibt eine Episode bei Bartsch, wo er auch diesen Familienadventshorror beschreibt.

Hat sich der Klerus damals selbst einen eigenen Teufel erschaffen?
Katholizismus spielt im Werdegang von Bartsch eine ganz entscheidende Rolle. Das Elternhaus war sehr katholisch und er ist auf einem sehr strengen Internat zur Schule gegangen, wo ganz strenge Vorstellungen von Sünde, von Keuschheit, von Unzucht eingeimpft wurden und er sich selbst auch immer schuldig fühlte. Er hat mal gesagt, wenn man einen Ort suche, wo Homosexualität gezüchtet würde, dann müsse man nach Marienhausen gehen. Ob das so stimmt, kann ich gar nicht beurteilen, aber ganz klar sind die katholischen Erziehungsmaßnahmen dieser Zeit alles andere als hilfreich gewesen, um einen jungen Menschen, der sich verloren fühlt, orientierungslos fühlt, auf einen richtigen Weg zu bringen.

Aber es soll doch auch eine Vergewaltigung durch einen Priester gegeben haben?
Das ist eben nicht ganz klar. Man kommt an einen Punkt, der für uns extrem spannend, aber auch kompliziert ist, weil wir bei den Selbstzeugnissen von Bartsch immer auch manipuliert werden. Der ist unheimlich eloquent, aber gleichzeitig‒egal, ob bewusst oder unbewusst‒manipuliert er in seinem Schreiben die Leser. Er nimmt sie extrem für sich ein, dafür geht er mit sich auch relativ hart ins Gericht – und man denkt: der arme Junge. Man hat immer den Impuls, ihn als Opfer zu sehen, als Opfer seiner sozialen Bedingungen. Gleichzeitig sind wir in unserem Probenprozess immer wieder zu einem Punkt gekommen, wo wir gesagt haben, stopp, jetzt sitzen wir ihm auf. Man muss sich dann immer vorstellen, was er getan hat – das ist so unvorstellbar. Wir können diesen Texten nicht einfach so trauen.

Und die Inszenierung spielt auch noch in einem Bunker?

Martin Kindervater
Martin Müller-Reisinger ist die „Bestie von Langenfeld“, Foto: Jan Krämer
Martin Kindervater studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Japanologie in München, Köln und Tokio. Nach Hospitanzen bei den Münchner Kammerspielen und den Salzburger Festspielen arbeitet er in mehreren freien Projekten mit. Parallel dazu ist er als freiberuflicher Journalist und Illustrator tätig. Seit der Spielzeit 2011/12 ist Martin Kindervater Regieassistent am Theater Oberhausen.

Das ist richtig, aber ich denke, der Zuschauer wird nicht bekommen, was er am Anfang erwartet. Das Ganze in einem Bunker zu machen, ist ein großes Ausrufezeichen. Wir sind uns eigentlich alle einig, dass wir das nicht bedienen wollen. Sondern dass wir auf diesem schmalen Grad zwischen Dämonisierung des Bartsch auf der einen Seite und einem apologetischen Abend mit der Botschaft, dass er nur das Opfer war, auf der anderen Seite laufen wollen. Deswegen probieren wir das auch in dem Bunker, um diesem Ort etwas entgegenzusetzen. Gleichzeitig ist es natürlich ein Ort, in dem sich diese Not, diese Atmosphäre, diese Spannung extrem gut überträgt. Ich glaube, dass es schwierig ist, das Stück in einem klassischen Theaterraum zu machen.

Wie bewältigt man die Gratwanderung zwischen Sensationslust und psychologischer Aufarbeitung?
Das ist eine Frage, die wir uns bei jeder Probe stellen. Das ist in der Tat richtig schwer, weil uns natürlich bewusst ist, dass es auch ein bisschen um den Nervenkitzel geht, wenn man sich das in dem Bunker anschaut. Uns geht es auch darum, dem Zuschauer selbst bewusst zu machen, was ihn bewegt, sich dieses Stück anzukucken. Er kann auch mal wütend auf uns sein, er soll Momente der Beklemmung spüren, sich durchaus in Bartsch einfühlen und er soll mitbekommen, was er für einen Gefühlscocktail er reserviert bekommt.

Wie definiert die Inszenierung Schuld?
Ich glaube, es gibt keine klare Definition, die wir in einen Satz packen könnten. Aber ich bin überzeugt: Wenn er völlige Einsicht in seine eigene Schuld erreicht hätte (durch eine Psychoanalyse Paul Moors wäre das vielleicht möglich gewesen), dann wäre er nicht mehr lebensfähig gewesen. Dann wäre er als Mensch so belastet mit den Taten, die er begangen hat, dass er wahrscheinlich vor Reue überhaupt nicht hätte weitermachen können. Ich glaube nicht, dass er sich ganz klar war, was er tat, was er getan hat. Er hat sich eben so ein Gebäude gebaut, in dem er sich bewegen konnte.

Was bewegt an der Psyche eines kranken Menschen, der so eloquent darzustellen vermag, was er getan hat und wodurch er dazu getrieben wurde?
Es ist der Mensch, der im Moment des Triebes einfach nicht anders kann und tatsächlich die größten Glücksmomente in diesen Trieberfahrungen spürt. Und der zwischen diesen Momenten des Monsterseins und jenen, in denen er wieder zum Mensch wird, Reue empfindet und Mitleid mit den Kindern hat, psychisch zerrieben wird. Gleichzeitig ist diese Psyche irgendwo auch das Produkt ihrer Zeit, aber uns ist wichtig, dass er ein Individuum ist; dass man nicht einfach sagen kann: Wenn diese sozialen Bedingungen vorherrschen, dann wird automatisch ein Monster draus. Sondern da ist ein Mensch, der tatsächlich unter extrem schlechten Bedingungen ins Leben geschickt worden ist, auch noch homosexuell, was in dieser Zeit alles andere als einfach war. Trotzdem ist er für seine Taten gewissermaßen verantwortlich. Man kann ihn nicht nur auf die sozialen Bedingungen reduzieren.

Aber er wollte die Kastration?
Die Psychiatrie Eickelborn war als sehr kastrationsfreudige Anstalt bekannt. Man hat sich im Grunde vorgegaukelt, damit wäre eine Resozialisierung möglich. Was völlig illusorisch war. Ich glaube, die Kastration ist für ihn eine Flucht gewesen, die nie hätte stattfinden können.

Und der ärztliche Kunstfehler als Vorsatz dabei ist natürlich Spekulation.
Totale Spekulation. Ich habe gelesen, dass es damals tatsächlich nicht üblich war, einen Anästhesisten zu haben und dass während der Operation einfach ein blöder Fehler passiert ist, der an anderen Stellen auch schon passiert ist. Ein Mord ist theoretisch denkbar, aber ...

vielleicht war es eine glückliche Fügung?
Es war wahrscheinlich besser so. Ich weiß nicht, wie dieser Mann hätte alt werden sollen.

Premiere: Bartsch, Kindermörder - Eine Selbstdarstellung | 16.12., 20 Uhr | Theater Oberhausen | weitere Termine: 18.12.2012, 10.1., 12.1., 15.1., 25.1.2013, jeweils 20 Uhr

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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