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Poesie auf der Wiese vor den Flottmann-Hallen,
Foto: Francis Lauenau

„Es gibt einen Zwang zum Event“

30. September 2010

Christian Strüder über die großen und kleinen Anbieter im Kulturhauptstadtjahr - Über Tage 10/10

trailer: Herr Strüder, RUHR.2010 ist bald um. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Christian Strüder: Es ging darum, eine kulturell bislang weniger beachtete Region als Kulturmetropole zu präsentieren. Trotz des guten Rufs einiger traditioneller, etablierter Einrichtungen musste man sich immer noch vom Kohlenstaub befreien. Und die Freie Szene spielte überregional bisher keine Rolle. Für eine Gesamtbilanz fehlt mir jedoch der Überblick.

Wenn ich „Metropole“ höre, muss ich tief durchatmen.
Ich auch. Es gibt hier inzwischen einen Zwang zum Event, zur Gigantomanie. Man will sich auf Teufel komm raus mit weltweit führenden Metropolen vergleichen. Mir wird da schwindlig, erst recht nach den Ereignissen in Duisburg. Lange fühlte man sich hier kulturell minderwertig. In nur einem Jahr sollte sich das schlagartig ändern, und die Region sollte auch in kultureller Hinsicht vom Weltall aus wahrgenommen werden. Dieser Druck, der da erzeugt wurde, ist eine Hauptursache für das, was während der Loveparade geschehen ist.

Nützt die Gigantomanie nicht auch den Flottmann-Hallen?
Nein, wir werden nur noch wahrgenommen, wenn wir etwas Großartiges machen. Event, Event, die Bühne brennt – da können wir nicht ständig mithalten. Problematisch wird es aber erst dann, wenn Megafestivals sich zusätzlich noch der Inhalte bedienen, auf die kleinere Häuser übers Jahr verteilt in Einzelveranstaltungen angewiesen sind.

Haben die Flottmann-Hallen überhaupt etwas von RUHR.2010 gehabt?
Oh ja, wir sind mit einigen Projekten beteiligt gewesen. Herne hat sich mit den Themen „Kanal“ und „Wasser“ früh und gut positioniert. Dazu gab es bei uns eine Ausstellungsreihe. Im Bereich der Jugendkultur boten wir die Europäische Jugendkunstausstellung im Mai an, im Juli das Pottfiction-Abschlusscamp auf unserem Außengelände. Zehn Tage lang erlebten wir in der Zeltstadt mit Wagenburg eine wunderbare Stimmung. Sieben Kinder- und Jugendtheater hatten hierfür ein Jahr zusammengearbeitet. Das Ganze wurde großzügig unterstützt von der Stiftung Mercator. Wir glauben, dass hier ein Netzwerk entstanden ist, das tatsächlich mal den Begriff „nachhaltig“ verdient.

Theater ist also nicht nur was für die ältere Generation?
Überhaupt nicht. RUHR.2010 richtet zum Glück den Fokus auch auf die Jugend. Der Poetry-Slam ist ein aufstrebendes Genre. Und ein junges in jeder Hinsicht. In diesem Jahr gibt es im Ruhrgebiet mit Slam2010 den größten europäischen Wettbewerb. Die Deutschen Meisterschaften finden in der Jahrhunderthalle statt, bei uns dazu die Vorrunde sowie das NRW-U20-Finale. Unser eigener „Sprechreiz“-Slam läuft sehr erfolgreich und wird von einem jungen, ambitionierten Team organisiert. Im Gegensatz zu Stand-Up-Comedy findet man hier regelrecht literarische Juwelen. Und Poetry lockt ein sehr junges Publikum an, dem man sonst ja oft die Fähigkeit des Zuhörens abspricht.

Man muss den Begriff Theater dann aber weiter fassen?
Natürlich. Es geht um Darstellende Kunst. Ob Schauspiel, Comedy, Zirkus oder auch das Figurentheater. Es gibt im Ruhrgebiet außer uns keinen Veranstalter, der regelmäßig Figurentheater für Erwachsene anbietet. Nur Festivals wie die Fidena. In diese kleine Lücke sind wir gestoßen. Viele Menschen verwechseln Figurentheater noch immer mit Kindertheater, wissen gar nicht, was für eine Kreativität und Faszination hinter diesem Medium steckt. Die Künstler sind gleichzeitig auch Bastler, Tüftler, Frickler – leider ohne große Lobby.

Was zeigen Sie noch im Hauptstadtjahr?
Ende des Jahres widmen wir uns dem zeitgenössischen Zirkus mit einem kleinen Festival, dem ersten in Deutschland. Im Unterschied zum traditionellen Zirkus und Varieté mit Nummernprogramm erfolgt im Cirque Nouveau eine Theatralisierung. Es wird eine durchgehende Geschichte erzählt oder zumindest dramaturgisch einem Roten Faden gefolgt. Die Franzosen haben damit begonnen, sind weiterhin führend, andere Nationen haben es übernommen. Die Finnen sind ganz großartig. Manchmal denke ich, das können nur Leute machen, die aus einem Land kommen, wo es acht Monate im Jahr dunkel ist.

Apropos dunkel. Ist im nächsten Jahr noch genug Geld da?
Wir sind eine städtische Einrichtung mit einem festen Budget, das zwar nicht gekürzt, aber mit Sperren belegt wurde und aufgrund des Nothaushaltes nur sukzessive freigegeben wird. Wie weit, erfahren wir jeweils erst im laufenden Jahr. Dazu sind wir gehalten, unsere Einnahmen zu erhöhen. Es kann also sein, dass wir vermehrt leichte Unterhaltung anbieten und häufiger vermieten müssen.

Gibt es sonst noch was zu meckern?
Einer Kulturhauptstadt unwürdig ist für mich die hiesige Medienlandschaft. Es gibt eine große Tageszeitung, die quasi eine Monopolstellung hat und jahrelang peinlicherweise nur eine Seite Kultur im Mantel anbot, für RUHR.2010 auf anderthalb bis zwei erweitert hat. Es existiert aber kein wirkliches Feuilleton. Die Redaktion berücksichtigt vor allem die großen, traditionellen Einrichtungen. Kleinere Veranstalter finden sich nur auf den Lokalseiten wieder. Über diese Schiene bekommt zum Beispiel auf Bochumer Stadtgebiet keiner mit, was 500 Meter entfernt bei Flottmann in Herne stattfindet. Ob RUHR.2010 es schafft, dieses mediale Kirchturmdenken abzubauen, wage ich zu bezweifeln.



Interviewserie „Über Tage“
„Über Tage“ handeln, ohne „unter Tage“ zu vergessen. trailer-ruhr spricht mit streitbaren Menschen über das Ruhrgebiet.

Interview: Lutz Debus

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