Die bisherige Karriere der Hollywoodschauspielerin Elisabeth Sparkle (Demi Moore) zeigt Coralie Fargeat in ihrem zweiten Film in einer einzigen Einstellung als Vorspann: In einem sogenannten Top Shot, gefilmt senkrecht nach unten, sehen wir in engem Bildausschnitt, wie Arbeiter für Elisabeth Sparkle einen neuen Stern in den berühmten „Walk of Fame“ einfügen. Es folgen die glamouröse Einweihungszeremonie, der Alltag der nächsten Jahre und Jahrzehnte mit Müll, Laub, ersten Kratzern und Rissen. Sparkles Filmkarriere endet, sie wird Host einer erfolgreichen Aerobic-Show. Doch ihr Produzent Harvey (Dennis Quaid) will sie durch eine Jüngere austauschen. Denn „mit 50 ist es aus!“ Da erhält Elisabeth ein geheimnisvolles Angebot, wie sie sich verjüngen könnte. Sie zögert nicht lange. Nach einer Injektion spaltet sich ein zweites, jüngeres und in jeder Hinsicht perfekteres Ich von ihr ab. Nun kann sie jeweils eine Woche als die junge „Sue“ (Margaret Qualley), als die sie sich ausgibt, leben, während ihr altes Ich mit Flüssignahrung versorgt in einer dunklen Kammer ruht. Bald ergeben sich die ersten Probleme. „The Substance“ bietet Blut plus eine Extraportion Irrsinn, Verstörung und Grenzüberschreitung. Fargeats Leinwandattacke steht dem „Body Horror“ eines David Cronenberg sehr nah. Wie bei Cronenberg wird der Körper nicht durch gewalttätige Fremdeinwirkung zerstört, sondern von innen heraus. Das geschieht in „The Substance“ ähnlich fantasievoll-irrwitzig wie zuletzt in „Titane“ von Fargeats Regie-Kollegin Julia Ducournau, ebenfalls Französin und 2021 mit ihrem Film Gewinnerin der Goldenen Palme in Cannes. Beides sind Filme, die mit einer effektiven, radikalen Bildsprache auf die Gewalt reagieren, der (weibliche) Körper in der Gesellschaft ausgesetzt sind. In „The Substance“ kommt noch eine überaffirmative Verwendung des Male Gaze – des „männlichen Blicks“ – hinzu, der in den Aerobic-Szenen bis zur Absurdität übersteuert ist. Doch das alles funktioniert nicht zuletzt durch eine unerschrockene Darbietung von Demi Moore so gut.
Stéphanie Di Giustos („Die Tänzerin“) zweiter Langfilm „Rosalie“ rekonstruiert auf fiktionale Weise tatsächliche Begebenheiten, die sich im Frankreich der 1870er Jahre zugetragen haben. Rosalie (Nadia Tereszkiewicz) ist im heiratsfähigen Alter und ein hübsches Mädchen. Bislang wissen aber nur sie und ihr Vater (Gustave Kervern), dass sie unter Hirsutismus leidet und rasch einen Vollbart bekommt, wenn sie sich nicht rasiert. Mit einer entsprechend hohen Mitgift gelingt es, Rosalie mit dem Kriegsinvaliden und Lokalbetreiber Abel Deluc (Benoît Magimel) zu verheiraten. Als dieser hinter die Wahrheit kommt, verstößt er seine frisch Angetraute zunächst, lässt sich dann aber doch auf sie ein. Eine Wette führt dazu, dass Rosalie ihr Geheimnis der ganzen Gemeinde offenbart, was den Umsatz von Abels Kneipe schlagartig explodieren lässt. Doch es gibt auch Neider und Unbelehrbare, die das kurze Glück schnell wieder ins Gegenteil verkehren. Ähnlich wie in David Lynchs Meisterwerk „Der Elefantenmensch“ mit John Hurt und Anthony Hopkins, in dem es um den am Proteus-Syndrom leidenden Joseph Merrick ging, spielt auch hier die Sensationsgier der Menschen eine zentrale Rolle. Stéphanie Di Giusto spricht in ihrem Film darüber hinaus die Bigotterie der Kirche an, wenn Rosalie vom Pfarrer in seiner Predigt schlechtgemacht wird. Spannend ist auch das ambivalente Verhältnis der beiden Eheleute, das im Laufe der Handlung verschiedene Stadien durchläuft.
Es beginnt mit Dokumentaraufnahmen aus jenen Jahren, in denen Somalia nach seiner Unabhängigkeit (1960) durch einen Militärputsch von 1969-1989 unter dem Offizier Said Barre zur Diktatur wurde. Dann weitet sich das Bild zu einem Spielfilm-Breitwandformat und wir sehen eine junge Frau beim Start eines Sprinterinnen-Wettbewerbs. Es ist die 1991 geborene Samia Yusuf Omar, die als einzige Sportlerin aus Somalia 2008 an den Olympischen Sommerspielen in Peking teilnahm und über 200 Meter startete. Sie wurde Letzte – und setzte sich ein neues Ziel: London 2012. Doch dieser Traum endete im Mittelmeer, in dem sie 2012 auf ihrer Flucht nach Europa ertrank. Zwischen mehreren Zeitebenen hin- und herspringend erzählt Yasemin Şamdereli – basierend auf dem Bestseller „Sag nicht, dass du Angst hast“ von Giuseppe Catozzella – die Geschichte der in ärmlichen Verhältnissen in Mogadischu aufwachsenden Samia. Schon früh verschreibt sie sich dem Laufen, läuft bald schneller als ihr Schulfreund Ali und gewinnt sogar den jährlich stattfindenden Stadtlauf. Yasemin Şamdereli hat nach „Almanya – Willkommen in Deutschland“ (2010) mit „Samia“ wieder ein kleines Meisterwerk geschaffen. Nur, dass sie diesmal nicht die Form der Komödie gewählt hat, sondern ein Drama erzählt.
Die „Favoriten“, das sind für Ilkay Idiskut ihre 25 Schulkinder, die sie bis zum Übertritt auf die Mittelschule im titelgebenden zehnten Wiener Bezirk Favoriten unterrichtet. Drei Jahre hat die renommierte österreichische Dokumentarfilmemacherin Ruth Beckermann die Arbeit der Lehrerin begleitet. Die Kinder, überwiegend mit Migrationshintergrund, lernen wir in der zweiten Klasse kennen, das Einmaleins steht auf dem Stundenplan. Als die Kinder der multiethnischen Klasse älter werden, spricht die Lehrerin auch traditionelle Rollenmuster und religiöse Bräuche an. Alles dokumentiert Beckermann behutsam im Stil des „Direct Cinema“ und bringt im Schnitt den großen Humor der Kinder und das Einfühlungsvermögen der Lehrerin zum Vorschein. Ein überzeugendes Plädoyer für eine humanistische Schule.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Laura Luchettis Coming-of-Age-Liebesgeschichte „Der schöne Sommer“, Ellen Kuras' Biopic „Die Fotografin“, Katharina Kösters und Katrin Nemecs etwas andere Crime-Doku „Jenseits von Schuld“, James Watkins Horror-Remake „Speak No Evil“, Alê Abreus Trickfilmabenteuer „Das Geheimnis der Perlimps“.
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