Wenn der Juli sich wochenlang wie Herbst anfühlt, sämtliche Wetter-Apps ein regnerisches Wochenende prophezeien und dann kurz vor Beginn des Open-Air-Konzerts der Himmel aufreißt und die Sonne die wunderschöne Location am Rhein-Herne-Kanal mit wärmenden Strahlen verwöhnt – dann wirkt das wie ein Zeichen: Schließlich haben Fury in the Slaughterhouse ihr neues Album trotz oder gerade wegen aller aktuellen Krisen optimistisch „Hope“ betitelt und mit jeder Menge positiver Grundstimmung bestückt.
Doch bevor die Hannoveraner Band die Bühne entert, sitzt dort ein Mann mit Gitarre in einem gelben Ohrensessel. 3 Miles to Essex nennt sich der Singer-Songwriter Volker Rechin eigentlich im Team mit seinem Mitmusiker Sebastian Demmin. In Gelsenkirchen ist er solo. Das ungewöhnliche Bühnenaccessoire ist ein Relikt aus der Corona-Zeit. Während der Lockdowns hat Rechin begonnen, vom eigenen Dachboden aus zu streamen – aus eben diesem Sessel. Irgendwann kam von einem Veranstalter die Frage, ob man ihn mit seinem Sessel buchen könne und so wurde ein etwas unhandliches, aber auf der Bühne sehr präsentes Erkennungszeichen geboren. Rechin spielt(e) übrigens den Bass bei Wingenfelder, dem Side-Projekt von Kai und Thorsten Wingenfelder, während der rund zehnjährigen Ruhepause von Fury in the Slaughterhouse. Er kommt auf der Bühne als sympathischer Geschichtenerzähler rüber, seine Songs sind solider Songwriter-Pop, der gut auf Fury einstimmt – auch wenn man sich leicht vorstellen kann, dass das Publikum am Abend drauf auf der Loreley nach dem Support durch Thees Uhlmann schon eher warmgesungen war.
Sitzkissen verboten
Als 3 Miles to Essex beginnt, gibt es übrigens noch lange Schlangen am Einlass. Vielleicht auch, weil die absurde Regelung, keine Sitzkissen auf dem Gelände zuzulassen, für nicht wenige Diskussionen und Kopfschütteln sorgt. Weitaus sinnvoller wäre es, wenn die Security ein Auge auf die Zugänglichkeit von Treppen und Notausgängen hätte, denn auch ohne Kissen werden die Treppenaufgänge im restlos ausverkauften Halbrund als zusätzliche Sitzplätze bis zum Start des Hauptacts genutzt. Auch während des Konzerts ist die Losung „Fluchtwege freihalten“ eher ein frommer Wunsch denn Realität.
Als Fury das Set mit „Cut myself into pieces“ beginnen und mit dem Opener tief in die 1990er Jahre zurückgreifen, hält es ohnehin so gut wie niemanden mehr auf dem Platz. Von den ersten Takten an ist das Publikum dabei. „Letter to myself“, das 2021 und somit 30 Jahre später erschien, schließt nahtlos an und stellt unter Beweis, dass die Fans nicht nur wegen der Nostalgie und der alten Songs hier sind, sondern auch Songs aus der Zeit nach der Reunion lieben. Das zeigt auch die begeisterte und textsichere Reaktion auf „Better times will come“, die Single, mit der vor ein paar Monaten das neue Album angekündigt wurde. Und so wird selbstsicher noch „Why worry“ hinterhergeschoben, ein Song der neuen Platte, die erst just am Konzerttag veröffentlicht wurde und in die sich die wenigsten bereits reingehört haben konnten. Auch dieser Gute-Laune-Song wird gefeiert. Und dann steht traditionell schon recht früh als vierter Song „Radio Orchid“ auf der Setlist, der erste Rückgriff auf das legendäre Album „Mono“, das in diesem Jahr 30-jähriges Jubiläum feiert. Diesen Hinweis hätte manch ergrauter Fan nicht unbedingt hören wollen, schließlich fühlt es sich doch an wie gestern. Und heute Abend, wo die Sonne malerisch über der Kohlenmischanlage der ehemaligen Zeche Nordstern untergeht und ein Grüppchen Standup-Paddlerinnen auf dem Kanal ebenso begeistert mitfeiert wie die Zaungäste, die es sich in den Wiesen am anderen Kanalufer bequem gemacht haben, sind wir alle wieder jung.
Musik statt Show
Kai Wingenfelder kommt während des Songs von der Bühne, dreht singend eine Runde durch das Publikum bis auf die Tribüne. Kein selbstverliebtes Bad in der Menge, keine großen Gesten, sondern ein unprätentiöser Besuch bei Freunden – Fury in the Slaughterhouse sind nahbar, sind für die Musik hier, nicht für die Inszenierung. Das führt zwar dazu, dass Gitarrist Christof Stein-Schneider sich bisweilen etwas unbeholfen durch den Abend kalauert, doch auch das ist ein Markenzeichen der Band. Und es ist Stein-Schneider, der als einziger immer mal wieder seitlich der Bühne den Sichtkontakt zu den Konzertbesuchern ohne Tickets auf dem Wasser und am Ufer sucht. Belohnt wird das, indem bei einer zeitlosen Ballade wie „Time to wonder“ bei einsetzender Dunkelheit das Lichtermeer der Handylampen auch jenseits des Wassers fortgeführt wird. Ein weiteres Highlight ist definitiv „Die in your friendly fire“, das seit fast 30 Jahren nicht mehr live gespielt und nun wieder ausgegraben wurde. Wenn sich die Band nach „Time to wonder“ verabschiedet, ist der Abend noch lange nicht zu Ende, und natürlich endet das erste Zugabeset mit dem hymnischen „Won‘t forget these days“. Auch wenn ein paar Handvoll Leute noch einen Bus bekommen oder dem Abreisechaos zuvorkommen wollen und zum Ausgang streben, kennt der Großteil des Publikums das Ritual, singt unbeirrt weiter, bis die Musiker auf die Bühne zurückkehren und den Song noch einmal aufnehmen, und das zweite Zugabeset einleiten. Noch in die Zugaben komplett neue Songs einzubauen, das muss man als Band erst einmal wagen, aber „Far Cry from Home/Who am I“ geht ebenso ab wie das darauf folgende „Kick it out“ vom Debütalbum. Mit „Bring me Home“ als wirklich allerletzter Zugabe wird das Publikum nach Haus geschickt – beziehungsweise der Teil des Publikums, der nicht noch für Autogramme anstehen möchte, denn die Musiker kündigen tatsächlich an, kurz nach dem Gig am Merchstand zu sein und die neue Platte und anderes zu signieren. Bei einer Kapazität von über 6.000 Plätzen ein sportlicher Vorsatz. Natürlich treten viele den Heimweg an, doch vor dem Signierzelt bildet sich schnell eine Schlange. Ob alle ihre ersehnten Autogramme erhalten und ob die Wingenfelders und Co bis in die frühen Morgenstunden auf dem Gelände bleiben, kann der Verfasser dieser Zeilen nicht sagen.
Platte der Zukunft
Egal, ob mit oder ohne Autogramm lohnt sich der Kauf der neuen Scheibe auf jeden Fall für alle, die mit dem eingängig melodischen Rock der Band und der prägnanten Stimme Kai Wingenfelders etwas anfangen können. „Hope“ schlägt gekonnt eine Brücke von den Wurzeln der Band in die Jetztzeit. So klingt der Sound vertraut und dennoch zeitgemäß. Auch wenn „Hoffnung“ für die Furys der rote Faden ist, der sich durch das komplette Album zieht und unter den sechs neuen Songs auf der Live-Setlist mit „Don‘t give up“, „Why worry“ und „Better Times will come“ drei gut gelaunte Mutmachsongs der Platte stehen, finden sich aber auch andere Töne. Das atmosphärisch dichte „Ghost in the city“ klingt wie ein „Every Generation Part II“, auch „Offline“ bietet textlich dystopische Ansätze und fragt, ob das Licht im Dunkeln, auf das wir wie Motten zuströmen, uns letztlich blendet und zerstört. Musikalisch mäandert die von Vincent Sorg (u.a. Donots, Broilers oder Die Toten Hosen) druckvoll produzierte Platte zwischen Pop, Rock und Indie und liebäugelt immer mal wieder mit folkigen Einsprengseln oder punkiger Attitüde. Fast allen Titeln gemein ist ein eingängiger Refrain, der airplaytauglich ist, ohne sich dem heutigen Formatradio anzupassen. Trotzdem sich Songs wie „Time to wonder“ oder „Won’t forget these Days“ ins kollektive Gedächtnis der Boomer-Generation eingegraben haben (egal, ob man’s damals mochte oder nicht), hatten Fury in the Slaughterhouse nie eine Nr. 1-Chartplatzierung. Mit „Hope“ nehmen sie kraftvoll Anlauf für einen neuen Versuch. Nicht verklärend zurückblicken, sondern aktiv die Zukunft in die Hand nehmen, das ist das Motto der Band: „The good old days are always now“.
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