Gerade noch bin ich durch die reizüberflutende Festivalstadt geeilt. Gerüche, Farben, Impressionen, alles mischt sich in einem Kaleidoskop der Sinne, rauscht auf dem Weg zum großen Festivalzelt vorbei. Zwischen Hängematten und Glockenspielen dringt Seligs „Wenn ich wollte“ aus dem Stadtwerke Zelt zu mir durch. Ich stocke kurz, ein wehmütiger Blick, man kann leider nicht alles haben. Also weiter zu meiner eigentlichen Destination. Kein Anstehen, kein Warten, mit einem Mal bin ich drin.
Am Anfang ist alles ein wenig verstreut. In den beeindruckenden Ausmaßen des Sparkassen-Tipis beim Zeltfestival verläuft sich selbst die große Masse an Fans, die gekommen sind um The Gaslight Anthem zu sehen. Eine demoskopisch interessante Mischung franst sich an den Rändern des Publikums aus. Die Skaterfraktion zwischen 20 und 30 nickt neben den älteren Rockern um die 50, daneben tanzt eine Familie mit Kind zu den ersten Stücken, die The Gaslight Anthem zunächst noch ohne Interaktion mit denen vor der Bühne sauber runterrocken. Außerhalb des Pulks, mit dem Bier in der Hand wippend, will aber noch kein richtiges Konzertfeeling aufkommen. Also weiter rein, in die Masse, vor die Bühne.
Sofort umringt von Fans, die alte wie neue Songs des aktuellen Albums „Handwritten" textsicher intonieren, bin ich sofort mittendrin. Irgendwie ergibt diese Mischung, sowohl die Zusammensetzung des Publikums als auch musikalisch auf der Bühne, erst jetzt Sinn. Die langsameren Stücke fühlen sich an wie eine Fahrt mit dem „Old White Lincoln“ über die Route 66. Songs voller Sehnsucht nach der Weite und den Möglichkeiten eines anderen Amerika. Hymnisch, aber nie kitschig, wofür schon die raue Stimme von Frontmann Brian Fallon sorgt. Der ist an diesem Abend übrigens in bester Stimmung. Schelmisch schäkert er mit den ersten Reihen, verlangt nach einer Einladung zur Pizza und ein bisschen merkt man ihm die rotzige Attitüde des Underdogs noch an.
Singing in the dark: TGA-Frontmann Brian Fellon. Foto: Jenni TerwissenDas mag daran liegen, dass TGA in Europa zwar schon die großen Festivalbühnen erobert haben, in ihrer Heimat aber auch noch den Support geben. Fallons augenzwinkernde Haltung zwischen Putzigkeit und Anarchie rechtfertigt den hinter der Band prangenden Totenkopf ebenso wie der sympathisch zugedröhnte Gitarrist Alex Rosamilia. Das nach vorne treibende Schlagzeug von Benny Horowitz verrät die musikalischen Wurzeln. In einigen Passagen ist der Punkrock plötzlich da, werden Songs wie „The Patient Ferris Wheel“ plötzlich schneller, dynamischer. Das reicht nicht zum Pogo, verleiht dem Sound aber lebendige, moderne Würze, die TGA als neue Generation des amerikanischen Indierocks ausweisen.
Bruce Springsteens Reikarnation
Wirklich unüberhörbar ist die Orientierung am „Boss“. Wüsste man es nicht besser, müsste man denken, Bruce Springsteen wäre tot und TGA wären seine Reinkarnation. Blasphemie beiseite, wie er singen sie von Aufbruch und Abschied, von der Sehnsucht nach Freiheit, nur mit mehr Tattoos.
Wie generationenübergreifend Sound und Inhalt sind, zeigen Dirk (49) aus Essen und Marco (39) aus Berlin. Die beiden Freunde sind Mitglied im offiziellen 45-Fanclub, besuchen an diesem Abend ihr zehntes Konzert. Als Liebhaber der ersten Stunde bzw. seit der zweiten LP „The '59 Sound“ freuen sie sich vor allem über das selten live gespielte „Blue Jeans & White Shirts“. Beide haben selbst schon Musik gemacht. Während Marco noch während des Konzerts kräftig auf einem imaginären Schlagzeug mitspielt, kam Dirk irgendwann die Erkenntnis, dass ein Saxophon von der Platte besser klingt. Musik bleibt dennoch ihre Leidenschaft. Marco war auf 52 Pearl Jam-Gigs, Dirk verehrt The Clash und aktuelle Größen des Genres wie Chuck Ragan von Hot Water Music, Bruder im Geiste von TGA. Während des Konzerts freuen sich Dirk und Marco über jedes einzelne Stück. Wenn hinter ihnen zwei höchstens 15jährige Teenager ebenso textsicher die Lippen zu „American Slang“ bewegen wird klar, dass die Zeit vergehen mag, aber die Sehnsucht ebenso bleibt wie der amerikanische Rock.
Weniger von TGA, mehr von Selig könnt ihr im unten stehenden Podcast zum fünften Tag des Zeltfestivals sehen, u.a. mit Jan Plewka im Interview.
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