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„Sturm auf den Winterpalast“, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Nikolaj Evreinov (Regisseur), u.a.
Foto: CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597 / Ausstellung: „Sturm auf den Winterpalast

Glaube verwässert Wissen

22. Februar 2018

Forensik von Bildern im Dortmunder U – Kunstwandel 03/18

Wer die Macht hat, hat auch die Kontrolle über die Geschichte. Das ist natürlich schon immer so, war seit den Aufzeichnungen fürs Alte Testament auch Normalität und herrschende Meinung. Im Dortmunder U ist gerade im sechsten Stockwerk eine Ausstellung zu sehen, wie beispielweise Alternative Fakten geschaffen wurden, die es sogar in zeitgenössische Schulbücher geschafft haben.

2017 jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Eines der visuellen Fanale, die diese Machtübernahme dokumentierten, waren die Fotos vom „Sturm auf den Winterpalast“. Alle Fotografien hatten eine leichte Unschärfe, kein Wunder, diese Einnahme wurde zum Symbol, die Bilder zu Ikonen, Teil der sowjetischen Geschichtsschreibung – nur die Bilder sind alle gestellt. Der wilde Sturm hat nie stattgefunden. Das Material stammte aus 1920. Inszeniert vom russischen Theaterregisseur und -theoretiker Nikolaj Evreinov, der zum 3. Jahrestag der Revolution damit beauftragt wurde. Der brauchte tausende Laiendarsteller, Militär, Matrosen, Zeitzeugen, Aufpasser, Logistiker und Handlanger, die die Haufen kanalisierten, damit auch schicke Aufnahmen entstanden. Die dramaturgische Meisterleistung wurde mit Telefonen an langen Leitungen und endlosem Schreien erst möglich. Wie der Glaube an die Erstürmung das tatsächliche Wissen verwässerte, zeigt sich zum Beispiel darin, dass die DDR zum 60. Jahrestag der Revolution das Motiv als 25 Pfennig-Briefmarke herausgab. Schön rot mit gelbem Punkt.

Der HMKV zeigt nun im 6. Stock des U mit der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast – Forensik eines Bildes“ nicht nur alle erhalten gebliebenen Beweise des Reenactments – ein Film und etwa 75 Fotografien – sondern auch eingebettet in einen Grundriss-Parcours zeitgenössische  Bearbeitungen des Themas, und auch dabei spielen Bilder und ihre Verarbeitung eine große Rolle. Die spanische Künstlerin Cristina Lucas schafft alternative Fakten zu Eugène Delacroix‘ Freiheitsepos „La Liberté guidant le peuple“ (1830). Aus seinem „Die Freiheit führt das Volk“ wird in ihrem viereinhalbminütigen Video „Die zur Vernunft gebrachte Freiheit“ (2008/09). Hier frisst die Revolution in Zeitlupe ihre Führerin Marianne, mit Knüppeln und bösem Blick. Der amerikanische Präsident wusste dies übrigens schon, dass Delacroix hier Fake-News vermalt hat. Very bad. Total loser. Und deshalb kann man sich auch erst einmal beim „Sturm auf den Reichstag“ in Berlin aufs Kissen werfen. Der Schweizer Regisseur und Theaterautor Milo Rau hatte dazu im vergangenen November aufgerufen. Bei der „Generalversammlung“ sollten aus der ganzen Welt die alternativen Akteure zu Wort kommen, deren Stimme im Parlament hinter ihnen keine Wirkung hat. Ein Spektakel zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution war es allemal und es wurde auch eine „Charta für das 21. Jahrhundert“ verabschiedet, wenn auch der Sturm ein wenig dünn daher kam. Viel Zeit muss man für die sieben Positionen schon mitbringen. Allein Peter Watkins Film „La Commune (de Paris, 1871)“ von 1999 dauert alleine fast sechs Stunden und wird täglich um 12 gestartet.

Sturm auf den Winterpalast – Forensik eines Bildes | bis 8.4. | HMKV im Dortmunder U | 0231 496 64 20

PETER ORTMANN

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