Endlich ist der Genuss auch in ihr Leben gekommen: Endlich hat sich Erna, unschuldig geschieden und Mutter eines enttäuschenden Sohnes, etwas geleistet für ihre Leistung, nämlich einen Fernseher, einen gebrauchten. Für Nachbarin Grete, einmal geschieden und einmal Witwe, Mutter einer verschwundenen Tochter und eines Rauhaardackels, und Wallfahrerin Mariedl, immer alleine und ohne eine richtige Bindung. Ein guter Grund, den ganzen Lebensschmutz einmal hinter sich zu lassen. Seine eigene Mutter, die sich, vom Ehemann verlassen, als Putzfrau mit ihrem Kind durchschlug und sich schließlich zur „Präsidentin ihres eigenen Unglücks“ erklärte, war Schwabs Vorbild für sein „Schrottwerk mit drei alten Frauen“, wie der Autor selbstironisch schrieb. In Essen wird endlich mal wieder Schwab gespielt.
trailer: Herr Brandis, Werner Schwab wurde viel gespielt – ist aber ein wenig verschwunden von den Bühnen. Warum jetzt in Essen?
Jasper Brandis: Ich bin schon immer mit dem Schwab schwanger gegangen. Ich habe auch schon mal einen gemacht. Und zu der Zeit, wo er so gehyped wurde, habe ich die Stücke alle gesehen. Damals wurden sie ja tatsächlich rauf und runter gespielt und ich habe das Gefühl, er ist eigentlich nur verschwunden, weil er damals so viel gespielt worden ist. Nach seinem Tod wurde alles noch mal gespielt, aber dann hat man sich offensichtlich nach Frischfleisch umgesehen. Aber ich habe schon länger das Gefühl, dass er eigentlich zeitlos ist und dass man auch über die 1990er hinaus etwas in ihm entdecken kann – und wenn es nur die unglaubliche Wucht dieser Sprache ist, diese Wut, die da meiner Meinung nach drunter liegt.
Und warum ausgerechnet „Die Präsidentinnen“?
Ganz ehrlich – man kam auf mich zu mit diesem Stück. Ich finde aber „Die Präsidentinnen“ im Moment auch richtig für mich, weil die Schwab-Figuren schon im Allgemeinen um so etwas wie ihre Bühnenidentität ringen, auch wenn sie nur mit der Sprache ringen. In der Präambel des Stücks steht das ganz explizit, ich lese das mal vor: „Die Sprache, die die Präsidentinnen erzeugen, sind sie selber. Sich selber erzeugen (verdeutlichen) ist Arbeit, darum ist alles an sich Widerstand. Das sollte im Stück als Anstrengung spürbar sein.“ Diese Anstrengung, seine Identität zu behaupten oder seine persönliche kleine Sehnsucht in die Welt zu pusten, dieses Angestrengtsein dabei berührt mich sehr. Ich habe „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ zuerst gesehen und danach mehrfach „Die Präsidentinnen“ in Frankfurt, Wien und Hamburg. Irgendetwas berührt wahnsinnig an diesen Texten, man weiß aber gar nicht genau, warum. Oder man kann sagen, es ist diese Wut, diese Verletzlichkeit darunter. An den „Präsidentinnen“ reizt mich speziell nicht nur die Figur Mariedl, sondern auch Erna und Grete, weil sie gemeinsam versuchen, mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, und mit allen Gedanken und Phantasien auf die Welt zuzugreifen – und zwar als Herrschende. Als jemand, der tatsächlich Zugriff hat. Von außen draufgeschaut haben sie aber gar keinen Zugriff, und das macht das Ganze so bitter und auch so komisch. Aber wie sie sich das wünschen und dass sie sich das mit so einer Vehemenz wünschen, dass sie sich gegenseitig sogar in ihren Phantasien verletzen, das hat mit Theater zu tun. Und ganz viel damit, wie man sich das Leben vorstellt.
Das Stück steht und fällt mit dem lustvollen Spiel der drei Schauspielerinnen. Haben diese in Essen das nötige Potential?
Davon gehe ich aus. Gut kenne ich nur eine von den dreien. Das ist Ingrid Domann, mit der hätte ich beinahe auch in Göttingen gearbeitet. Ich kenne sie aber schon ganz lange und wir wollten immer mal wieder zusammenarbeiten. Die anderen beiden habe ich jetzt kennengelernt, ich habe sie auch auf der Bühne gesehen und finde sie gut. Das Potential ist also da. Wir werden es sehen.
In Bochum gab es mal eine Inszenierung mit Tana Schanzara fast ohne Bühnenbild. Wie wird das im Grillo?
Ich habe mit der Bühnenbildnerin noch nicht gearbeitet, wir haben uns jetzt kennengelernt. Sie ist die Bühnenbildassistentin am Haus. Wir haben aber auch die Bühne stark reduziert. Im Grunde gibt es einen Tisch und drei Stühle und ein bisschen Deko, aber das ist auch alles. Schon ein dezidiertes Bühnenbild – es gibt da noch was –, aber ich glaube, dass dieses Stück die Sprache ist, so wie es in dieser Präambel heißt. Ich glaube sogar, dass die Figuren und ihre Psychologie die Sprache sind. Schwabs Stück „Volksvernichtung“ habe ich schon inszeniert, da es ist fast wie bei Kleist: Die Psychologie speist sich zu 50 bis 80 Prozent aus der Sprache. Die Schauspieler müssen im Grunde genommen die Lust entwickeln, über den Widerstand, den der Text liefert, über diese Sperrung an die eigentliche Wut und die Emotionen ranzukommen. Anders als bei anderen Stücken, wo man sich erst mal eine situative Psychologie überlegt und versucht, einen Text in dieser Stimmung zu sprechen.
Ist der Schwabsche Dialekt für die Schauspieler nicht unheimlich schwierig?
Ich glaube ja, dass man sich da gar nicht zu sehr oder nicht nur verkünsteln muss, weil er es ja ausgeschrieben hat. Das heißt, man muss gar nicht groß in den Dialekt gehen, sondern man muss diese Kunstsprache ernstnehmen, wie sie ist. Und dann entsteht all das, was man sich wünscht. Ich glaube gar nicht, dass man da groß Österreichisch sprechen muss.
Wird denn der Papst aktualisiert – von Wojtyla zu Ratzinger vielleicht?
(lacht) Vielleicht, ja. Wir haben im Bühnenbild ein Papstbild hängen. Vielleicht hängen wir vielleicht auch beide auf. Wir werden sicher nicht den Fleischhauer Karl Wotila verändern, der bleibt der Fleischhauer Karl Wotila, das ist zu schön, der ist ja auch Pole. Das lassen wir so.
„Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab | R: Jasper Brandis | P: 30.11. 20 Uhr | Schauspiel Essen | 0201 812 22 00 | www.schauspiel-essen.de
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