trailer: Herr Pollesch, wie fühlt man sich, wenn man als erfolgreicher Theatermann bei Karstadt in Essen einkaufen geht?
René Pollesch: Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in Essen. Uns ist nur aufgefallen, dass hier in Mülheim auch der Kaufhof schließt, der ja nicht zur Acandor-Gruppe gehört. Für einen Kulturmacher ist das eigentlich kein Problem. Ich habe zwar momentan eine privilegierte Situation. Aber es gibt viele Künstler, die leben prekärer als eine Karstadtverkäuferin, ehrlich gesagt. Natürlich muss mich die Situation bei Karstadt kümmern, aber die Frage ist, was kann ich als Künstler, der mit Kapitalismuskritik verbunden wird, darüber formulieren. Es gibt eine kategorische Kapitalismuskritik, der sich eine Karstadtverkäuferin nicht anschließen könnte. Wenn es darum geht, den Kapitalismus über Arm und Reich zu definieren, dann ist das nicht mein Ansatz. Und die Empörung, die alle ergreift, selbst die Acandor-Großaktionärin Schickedanz kriegt einen Herzanfall, die bricht wie so ein Schicksal über uns herein, und man müsste jetzt einmal herauskriegen, wie man dieses Schicksalhafte verändern könnte. Ich möchte mich nicht immer gleich mit empören, das ist scheinheilig.
Kann Kultur eine bestehende Ökonomie der Ausbeutung verwandeln?
Nein. Der Kulturbetrieb selbst besteht total aus Ausbeutung. Das ist auch oft unser Thema gewesen. Da wird mit Versprechen gehandelt. Die meisten arbeiten umsonst im Kulturbetrieb, mit dem Versprechen, es irgendwann mal selbst zu schaffen. Natürlich könnte man bestimmte Praktiken im Kulturbereich verändern, man könnte dafür sorgen, dass Praktikanten bezahlt werden, man könnte Proben anders organisieren. Das Problem trifft auf alle Künstler zu. Man müsste da mal genauer hinschauen.
Warum kann ich immer noch nicht von meinem guten Aussehen leben?
Weil die Körper nicht zu ihrem Recht kommen. Das fängt an mit so einem Körper-Seele-Dualismus, es geht um die Unsterblichkeit der Seele, und der Körper ist etwas, das auf den Müll geworfen wird. Das ist ein Paradigma, das selbst Atheisten reflexhaft in sich tragen. Ich bin, und weiß auch nicht, warum das so ist, wie Judith Butler für das Gewicht der Körper. Dass es wichtig ist, dass die Körper, also die Lebewesen, die Organismen, in ihrem Hier und Jetzt zu ihrem Recht kommen müssen. Und ich möchte, dass man mit seinem eigenen guten Aussehen bezahlen kann.
Muss der Kampf um Selbstverwirklichung nicht endlich militanter werden?
Das große Problem ist meiner Meinung nach die Selbstverwirklichung selbst. Das ist eine Form von Seelenheil. Diese Abgrenzung, ich bin das oder das Individuum, und ich verwirkliche mich selber. Eine Militanz der Selbstverwirklichung gibt es ja bereits. Es müsste eine Militanz des Versuchs geben, kollektiv zu arbeiten, dass man sieht, dass man sich nur selbst verwirklichen kann, wenn man sich mit anderen verwirklicht, dass man besser funktioniert – mit anderen. Dass man Solidarisierungsformen sucht, insbesondere im Kunstbereich. Wenn fünf Menschen gemeinsam als Regisseure auf einem Theaterplakat stehen, dann denken alle, die haben ja einen Knall, das ist ein Kindergeburtstag. Die Kultur will den einzelnen autonomen Produzenten. Jeder will abgegrenzte Subjekte haben, und das ist das Instrument, mit dem man uns voneinander trennt.
Also doch kein selbstständiges Arbeiten an der eigenen, sozialen Skulptur?
So etwas produziert immer Missverständnisse. Ich hielt Beuys‘ Theorie der sozialen Skulptur immer für eine soziale Aktion, die versucht hat zu lancieren. Ich hab das nie als eine individuelle Lebenskunst gesehen, oder ich hab den völlig missverstanden. Auch Foucault hat sich am Ende seines Lebens immer um die Lebenskunst gekümmert, also um die Sorge um sich, was es heißt, ein glückliches Leben zu führen. Er hat aber auch gesagt, vielleicht gibt es so etwas wie Glück gar nicht oder den Humanismus, der uns alle zu unserem Glück führen soll. Viele sagen heute, der oder der hat aber mehr Glück gehabt, oder schauen wir auf die Politik, die den Konsum zum Glücksfaktor erklärt. Das Problem ist nicht das Glück, sondern der Humanismus. Vielleicht muss der weg, und Glück gibt es eh nicht und damit brauchen wir auch keine Politik, die sich für unser Glück einsetzt.
Muss sich der Bochumer Opelarbeiter jetzt mit Boris Groys beschäftigen?
Ich fände das lohnenswert, aber ich weiß, dass das nicht passieren wird. Dennoch ist der Zugang zu Bildung und damit zu Lektüre unheimlich wichtig. Als Sohn eines Hausmeisters und einer Hausfrau wäre es damals nicht möglich gewesen Theaterregisseur zu werden. Möglich machte das die Bildungsreform, meine Eltern hätten mich nie auf ein Gymnasium geschickt. Dann wäre ich Bankkaufmann, würde in einer Bank arbeiten oder wäre arbeitslos und würde Groys nicht kennen. Ich weiß aber, dass mich das bereichert hat. Genauso weiß ich, dass man als Bankkaufmann mit 40 Jahren nicht plötzlich anfängt, Boris Groys zu lesen. Das würde einen langweilen, und da setzt man sich lieber vor die Glotze.
Groys sagt aber, Kunst, die als Kunst erkannt wird, ist Kitsch. Ist Theater nicht nur noch Kitsch?
allem, weil die, die Kunst beobachten, feststellen, dass sich die Künstler nur noch an Abziehbildern festhalten, an denen sie schon vorher gesehen haben, dass es Kunst ist. Wenn ich im Theater einen röhrenden Schauspieler sehe, und ich kriege die Krise, denken andere, das sei Kunst. Im Theater ist viel Kitsch, und es wird nicht entlarvt, weil viele daran festhalten und denken, Kunst muss so oder so aussehen, und wenn sie das nicht finden, dann ist es keine Kunst. Auf der anderen Seite geht jemand zu einem Rezitationsabend einer berühmten Schauspielerin, die ihre Röhre und ihren Manierismus nicht einfach abstellen kann. Wenn er dann denkt, das sei Kunst, ja dann ist er beim Kitsch gelandet.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Der Text hat viel mit heute zu tun“
Regisseurin Felicitas Brucker über „Trommeln in der Nacht“ am Bochumer Schauspielhaus – Premiere 04/25
„Die Kraft des Buchs besteht in der Aufarbeitung“
Bettina Engelhardt inszeniert Bettina Flitners Roman „Meine Schwester“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 03/25
„Die perfekte Festung ist das perfekte Gefängnis“
Ulrich Greb inszeniert Franz Kafkas „Der Bau“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/25
„Ich war begeistert von ihren Klangwelten“
Regisseurin Anna-Sophie Mahler über Missy Mazzolis „The Listeners“ in Essen – Premiere 01/25
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24
„Eher die Hardcore-Variante von Shaw“
Regisseur Damian Popp über „Pygmalion – My Fairest Lady“ am Schlosstheater Moers – Premiere 05/24
„Zu uns gehört das Lernen von den Alten“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2024 – Premiere 04/24
„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24
„Es kommt zu Mutationen zwischen den Figuren“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Der Diener zweier Herren“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
„Der Mensch braucht Freiraum, um Sinnloses machen zu dürfen“
Rafael Sanchez über „Jeeps“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 12/23
„Ich hoffe doch, dass wir alle überleben“
Regisseurin Linda Hecker über „Totalausfall“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/23
„Bei uns klebt sich keine:r fest“
Dramaturgin Sarah Israel über das Krefelder Tanzfestival Move! – Premiere 10/23
„Dass wir vor lauter Geldfetisch nicht mehr wissen, wo oben und unten ist“
Regisseur Kieran Joel über „Das Kapital: Das Musical“ am Theater Dortmund – Premiere 09/23
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
„Die Verbindung von proletarischer Kultur und Hiphop ist ziemlich stark“
Der Künstlerische Leiter Fabian Lasarzik über Renegades „Chromeschwarz“ – Premiere 07/23
„Das Theater muss sich komplexen Themen stellen“
Haiko Pfost über das Impulse Theaterfestival 2023 – Premiere 06/23
„Was heißt eigentlich Happy End heute?“
Alexander Vaassen inszeniert „How to date a feminist“ in Bochum – Premiere 05/23
„Ich bin nicht außer mir vor Wut, im Gegenteil“
Olaf Kröck über die Recklinghäuser Ruhrfestspiele und Theater in Kriegszeiten – Premiere 04/23