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Foto: Stephan Glagla

"Ich möchte mich nicht immer gleichmit empören, das ist scheinheilig"

01. Juli 2009

Ruhrtrilogie-Autor und Regisseur René Pollesch über Geld, das Recht der Körper und Kitsch - Premiere 07/09

trailer: Herr Pollesch, wie fühlt man sich, wenn man als erfolgreicher Theatermann bei Karstadt in Essen einkaufen geht?
René Pollesch: Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in Essen. Uns ist nur aufgefallen, dass hier in Mülheim auch der Kaufhof schließt, der ja nicht zur Acandor-Gruppe gehört. Für einen Kulturmacher ist das eigentlich kein Problem. Ich habe zwar momentan eine privilegierte Situation. Aber es gibt viele Künstler, die leben prekärer als eine Karstadtverkäuferin, ehrlich gesagt. Natürlich muss mich die Situation bei Karstadt kümmern, aber die Frage ist, was kann ich als Künstler, der mit Kapitalismuskritik verbunden wird, darüber formulieren. Es gibt eine kategorische Kapitalismuskritik, der sich eine Karstadtverkäuferin nicht anschließen könnte. Wenn es darum geht, den Kapitalismus über Arm und Reich zu definieren, dann ist das nicht mein Ansatz. Und die Empörung, die alle ergreift, selbst die Acandor-Großaktionärin Schickedanz kriegt einen Herzanfall, die bricht wie so ein Schicksal über uns herein, und man müsste jetzt einmal herauskriegen, wie man dieses Schicksalhafte verändern könnte. Ich möchte mich nicht immer gleich mit empören, das ist scheinheilig.

Kann Kultur eine bestehende Ökonomie der Ausbeutung verwandeln?
Nein. Der Kulturbetrieb selbst besteht total aus Ausbeutung. Das ist auch oft unser Thema gewesen. Da wird mit Versprechen gehandelt. Die meisten arbeiten umsonst im Kulturbetrieb, mit dem Versprechen, es irgendwann mal selbst zu schaffen. Natürlich könnte man bestimmte Praktiken im Kulturbereich verändern, man könnte dafür sorgen, dass Praktikanten bezahlt werden, man könnte Proben anders organisieren. Das Problem trifft auf alle Künstler zu. Man müsste da mal genauer hinschauen.

Warum kann ich immer noch nicht von meinem guten Aussehen leben?
Weil die Körper nicht zu ihrem Recht kommen. Das fängt an mit so einem Körper-Seele-Dualismus, es geht um die Unsterblichkeit der Seele, und der Körper ist etwas, das auf den Müll geworfen wird. Das ist ein Paradigma, das selbst Atheisten reflexhaft in sich tragen. Ich bin, und weiß auch nicht, warum das so ist, wie Judith Butler für das Gewicht der Körper. Dass es wichtig ist, dass die Körper, also die Lebewesen, die Organismen, in ihrem Hier und Jetzt zu ihrem Recht kommen müssen. Und ich möchte, dass man mit seinem eigenen guten Aussehen bezahlen kann.

Muss der Kampf um Selbstverwirklichung nicht endlich militanter werden?
Das große Problem ist meiner Meinung nach die Selbstverwirklichung selbst. Das ist eine Form von Seelenheil. Diese Abgrenzung, ich bin das oder das Individuum, und ich verwirkliche mich selber. Eine Militanz der Selbstverwirklichung gibt es ja bereits. Es müsste eine Militanz des Versuchs geben, kollektiv zu arbeiten, dass man sieht, dass man sich nur selbst verwirklichen kann, wenn man sich mit anderen verwirklicht, dass man besser funktioniert – mit anderen. Dass man Solidarisierungsformen sucht, insbesondere im Kunstbereich. Wenn fünf Menschen gemeinsam als Regisseure auf einem Theaterplakat stehen, dann denken alle, die haben ja einen Knall, das ist ein Kindergeburtstag. Die Kultur will den einzelnen autonomen Produzenten. Jeder will abgegrenzte Subjekte haben, und das ist das Instrument, mit dem man uns voneinander trennt.

Also doch kein selbstständiges Arbeiten an der eigenen, sozialen Skulptur?
So etwas produziert immer Missverständnisse. Ich hielt Beuys‘ Theorie der sozialen Skulptur immer für eine soziale Aktion, die versucht hat zu lancieren. Ich hab das nie als eine individuelle Lebenskunst gesehen, oder ich hab den völlig missverstanden. Auch Foucault hat sich am Ende seines Lebens immer um die Lebenskunst gekümmert, also um die Sorge um sich, was es heißt, ein glückliches Leben zu führen. Er hat aber auch gesagt, vielleicht gibt es so etwas wie Glück gar nicht oder den Humanismus, der uns alle zu unserem Glück führen soll. Viele sagen heute, der oder der hat aber mehr Glück gehabt, oder schauen wir auf die Politik, die den Konsum zum Glücksfaktor erklärt. Das Problem ist nicht das Glück, sondern der Humanismus. Vielleicht muss der weg, und Glück gibt es eh nicht und damit brauchen wir auch keine Politik, die sich für unser Glück einsetzt.

Muss sich der Bochumer Opelarbeiter jetzt mit Boris Groys beschäftigen?
Ich fände das lohnenswert, aber ich weiß, dass das nicht passieren wird. Dennoch ist der Zugang zu Bildung und damit zu Lektüre unheimlich wichtig. Als Sohn eines Hausmeisters und einer Hausfrau wäre es damals nicht möglich gewesen Theaterregisseur zu werden. Möglich machte das die Bildungsreform, meine Eltern hätten mich nie auf ein Gymnasium geschickt. Dann wäre ich Bankkaufmann, würde in einer Bank arbeiten oder wäre arbeitslos und würde Groys nicht kennen. Ich weiß aber, dass mich das bereichert hat. Genauso weiß ich, dass man als Bankkaufmann mit 40 Jahren nicht plötzlich anfängt, Boris Groys zu lesen. Das würde einen langweilen, und da setzt man sich lieber vor die Glotze.

Groys sagt aber, Kunst, die als Kunst erkannt wird, ist Kitsch. Ist Theater nicht nur noch Kitsch?
allem, weil die, die Kunst beobachten, feststellen, dass sich die Künstler nur noch an Abziehbildern festhalten, an denen sie schon vorher gesehen haben, dass es Kunst ist. Wenn ich im Theater einen röhrenden Schauspieler sehe, und ich kriege die Krise, denken andere, das sei Kunst. Im Theater ist viel Kitsch, und es wird nicht entlarvt, weil viele daran festhalten und denken, Kunst muss so oder so aussehen, und wenn sie das nicht finden, dann ist es keine Kunst. Auf der anderen Seite geht jemand zu einem Rezitationsabend einer berühmten Schauspielerin, die ihre Röhre und ihren Manierismus nicht einfach abstellen kann. Wenn er dann denkt, das sei Kunst, ja dann ist er beim Kitsch gelandet.

PETER ORTMANN

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