Das Festival „Theater der Welt“ unter der Programmdirektion der belgischen Kuratorin Frie Leysen präsentiert ein internationales sparten- übergreifendes Programm mit 32 Produktionen, die sich an den Schnittstellen von Theater, Tanz, Oper, Musik, bildender Kunst und Performance bewegen. Bespielt werden klassische Theaterräume, aber auch die Industriebauten auf dem Areal der ehemaligen Zeche Zollverein, die Essener Innenstadt oder eine Fabrikantenvilla in Mülheim. Einige Gruppen erarbeiten ihre Produktionen vor Ort, fast die Hälfte der Arbeiten sind Uraufführungen. Seit zwei Jahren wohnt Frie Leysen in Essen, um zu sehen, wie die Menschen im Ruhr- gebiet ticken.
trailer: Frau Leysen, eigentlich ist das Festival die documenta des Theaters. Kommen da also die Avantgarde oder die arrivierten Theatermacher der jeweiligen Länder?
Frie Leysen: Das hängt davon ab, welcher Kurator jeweils für das Theater der Welt auswählt. Nun, die Größen im Theaterbetrieb kennen wir. Für mich war die Frage wichtig: Wer sind die Großen von morgen? Ich bin also eher neugierig darauf, wie junge Künstler, die in urbanen Kontexten leben und arbeiten, verteilt über die ganze Welt zwischen Buenos Aires und Tokio, ihre Gesellschaft sehen, analysieren und kritisieren, und welche Visionen dabei herauskommen, und wie relevant das für das Ruhrgebiet und die Menschen hier sein könnte. Das bedeutet zwei Sachen. Es ist kein Best Of-Festival, und es ist auch kein Festival mit den bekannten großen Namen. Ich möchte sehen, was die Zukunft für das Theater bringt.
Zeitgenössische Theaterkunst aus fünf Kontinenten. Ist der unterschiedliche Blickwinkel eher ökonomischer, politischer oder rein künstlerischer Natur?
In erster Linie natürlich künstlerisch. Aber beim kritischen Blick auf die jeweilige Gesellschaft geht das natürlich auch ins Politische und Soziale. Für mich geht es ursächlich darum, dass wir zwar mit unserem westlichen Blick glauben, alles verstehen zu können, fixiert sind in erster Linie auf unsere Kultur und wie wir die Welt sehen. Ich möchte gerne wissen, wie andere Menschen aus anderen Blickwinkeln diese Welt und ihre Ge- schichte sehen. Da findet sich im Programm zum Beispiel „Montezuma“, eine Oper, geschrieben von einem deutschen Komponisten und deutschen Librettisten über die Eroberung von Mexiko durch Cortez und die Spanier. Das ist eine westliche Ge- schichte über ein exotisches Land. Im Spätbarock war das hier in Europa eine völlig unbekannte Gegend. Wenn man dieses Material heute einem jungen Regisseur aus Mexiko in die Hände gibt, dann bekommt man eine ganz andere Geschichte. Dann erlebt man diese Eroberung, aber gesehen durch die Augen von Mexikanern, nicht durch die Augen des Westens.
Das Dokumentarische nimmt am Theater zu. Werden die zeitlosen Fragen verdrängt?
Damit bin ich nicht einverstanden, die zeitlosen Fragen kommen immer durch, nur die Perspektive ist anders. Wenn ich die Arbeit junger Künstler weltweit beobachte, dann kommen die meisten immer auf die ewigen Themen zurück. Aber die Realität ist heute im Theater immer präsenter. Immer häufiger geht es um die Analyse einer Gesellschaft, und was da schief geht. In diesem Sinne ist es politisch, weil es um Migrations- oder Kolonisierungsfragen geht, es geht um Menschenhandel und den Verlust von Perspektiven. Fehlende oder unmögliche Lebensziele sind ein großes Thema in Japan. Das Dokumentarische ist insofern interessant, dass es uns wieder in diese Welt und in unser Jetzt und Heute bringt, aber ich bin der Überzeugung, dass die großen Themen bleiben.
Der existentielle Druck auf die Menschen im Westen nimmt zu. Gewalttätige Auseinandersetzungen weltweit auch. Wo sehen Sie einen Wandel durch Kultur?
Wir versuchen, die komplexe Welt mit Klischees zu begreifen, und das finde ich ganz gefährlich. Ich glaube, dass Kunst und Kultur diese Klischees hinterfragen können. Man kann in diesem Festival auch sehen, wo diese Klischees über dem anderen liegen. Wenn es darum geht, Terroristen, Täter, Opfer oder Unterdrückte auszumachen. Wenn man das aber hinterfragt und dem anderen von Angesicht zu Angesicht begegnet, dann versteht man, worum es wirklich geht, und dass diese Klischees nicht wirklich existent sind. Ich hoffe, dass so ein Festival ein Wendepunkt sein kann für die Perspektive, wie wir die anderen an- sehen. Dazu kommt noch, dass wir durch Angst regiert werden. Die politische Welt kreiert ein konstantes Gefühl von Angst, und das finde ich auch sehr gefährlich. Man sollte nicht in Angst vor jemand anderem leben. Man sollte immer offen und gastfreundlich sein. Mit diesem Festival werden wir die Welt nicht ändern, wir möchten nur einige Perspektiven verändern.
Haben Sie einen Favoriten im Festival, oder darf man so etwas als Kuratorin gar nicht haben?
Ich habe 32 Favoriten. Ich bin unglaublich vielen Künstlern begegnet und habe unzählige Arbeiten gesehen. Die Auswahl, die ich getroffen habe, war eine persönliche, ich war so beeindruckt, berührt und auch erschüttert von ihnen, und ich möchte nun, dass die Menschen im Ruhrgebiet diese Künstler auch kennenlernen. Ich habe nicht die Ambition zu sagen, das sind nun die besten Künstler der Welt, ich habe ja sehr viele noch nicht gesehen, und das ist alles relativ, aber diese Auswahl sollten alle sehen.
Theater der Welt I 30.6.-17.7. I 0208 993 16 90 www.theaterderwelt.de
Zur Person
Die Festivalmacherin Frie Leysen, geboren in der flämischen Provinzstadt Hasselt, gilt als eine der erfahrensten Persönlichkeiten der internationalen Theaterszene. Zu einem Zeitpunkt, als sich in Belgien der Dauerkonflikt zwischen Flamen und Wallonen zuspitzte, arbeitete sie konsequent und erfolgreich mit den Mitteln der Kunst für Integration und Verständigung. 1994 gründete sie in Brüssel das multidisziplinäre Kunstenfestivaldesarts, das sie über zehn Jahre erfolgreich leitete und zu einem der einflussreichsten internationalen Festivals Europas entwickelte. Die Kunsthistorikerin Frie Leysen wurde als erste internationale Programmdirektorin von Theater der Welt 2010 berufen.
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