Eine „Monstre-Tragödie" nannte Frank Wedekind seine 1894 vollendete Urfassung der Lulu. Eine Katastrophe im wilhelminischen Deutschland angesichts der unverklemmten, unverschämten Darstellung von sexueller Lust und Abhängigkeit, von lesbischer Liebe und Prostitution. Bei der englischen Theaterband Tiger Lillies wird die „Monstre-Tragödie" 2014 zur „Mörderballade". Neues Musiktheater an den Schauspielhäusern?
trailer: Herr Lernous, „The Black Rider" von Tom Waits, „Lulu" von den Tiger Lillies. Gibt es neue Opern außerhalb der Opernhäuser?
Stef Lernous: Ich würde nicht sagen Oper. Und „The Black Rider" ist ja auch nicht wirklich neu. Also ich muss sagen, ich liebe Musicals. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Belgien ist es für einen Theaterregisseur fast ein Tabu, ein Musical zu machen. Oper ist schön und gut, aber Musical? Nee. Ich finde, dass das Musical immer nach einer neuen Form, einer neuen Gestalt gesucht hat. Im zeitgenössischen Theater versuchen wir immer, alle Dinge zu vermischen, in der Oper machen wir heute alles mit Multimedia, wir integrieren Film, Echtzeitvideo. Und das Musical hat ebenfalls versucht, sich zu erneuern. Dafür steht auch „The Black Rider" von 1990. Das Tolle daran ist, dass es nicht wirklich narrativ ist, es hat eine sehr freie Art der Erzählung. Es gibt zwar so etwas wie eine Story, die auf dem Weberschen „Freischütz" basiert, aber wenn du den nicht kennst, ist das Ganze einfach eine verrückte Story mit wunderschönen Liedern. Und das gefällt mir sehr, weil Theater meistens eher nur narrativ ist. Auch in der Oper bringt uns jedes Lied, jeder Part in der Geschichte weiter. Die letzte Oper, die ich gemacht habe, war Richard Wagners „Tristan und Isolde".
„Tommy" von The Who war Mitte der 1970er auch so gestrickt.
Ja, genau. Auch da sieht man, dass die Songs keine spezifische narrative Funktion haben. Du kannst Bilder mit ihnen produzieren. Manchmal helfen sie der Geschichte, aber es muss nicht zwanghaft die Geschichte wiedergeben. Es ist erst einmal nur Musik.
Was ist Ihre Obsession in der Geschichte von Frank Wedekind?
Ich mag alle Femmes fatales. Ich mag sie alle. „Salome" von Oscar Wilde, „Lolita" von Nabokov. Ich liebe diese Frauen. Ich liebe Narren und ich liebe Frauen. „Lulu" habe ich gelesen, bevor ich es gesehen habe. Ich kannte zwar die Verfilmung „Die Büchse der Pandora" von Georg Wilhelm Pabst mit Louise Brooks aus 1929 – sie ist so schön darin – ich las also das Stück noch einmal und wusste nicht, ob man es inszenieren kann, aber wenn man es liest, ist es erst einmal wirklich faszinierend. Du hast diese Lulu und weißt absolut nicht, was du aus ihr machen sollst. Ist sie eine Frau oder ist sie das, was die Männer möchten, dass sie ist? Für mich ist sie eine Frau. Die Über-Frau. Sehr sexy, finde ich.
In der Mischung aus Songs und Horror, was bleibt vom Opfer Lulu übrig?
Ich versuche Lulu gar nicht so sehr als Opfer zu sehen. Am Ende ist sie das Opfer, klar. Aber ich versuche, sie das Stück über stark sein zu lassen. Das ist schwer, aber wir versuchen es. Und, wenn man die Geschichte kennt: Am Ende wird sie sterben. Sie muss sterben. Und das ist natürlich an sich schon Horror.
Kommen wir zur Band. Die originalen Tiger Lillies sind nicht in Oberhausen?
Nein. Und das ist auch gut so.
Modifiziert die ursprüngliche Version der Band ihre künstlerische Arbeit?
Ja, wenn man über die Vision eines Regisseurs redet. Wir haben mit Otto Beatus einen tollen Musiker hier. Die Tiger Lillies haben gesagt: O.K., das ist zwar unsere Musik, aber du kannst frei damit umgehen. Das ist natürlich großartig und Otto hat natürlich sehr viel Talent, damit umzugehen. Ich kann noch nicht so viel zu meiner Vision sagen. Als wir angefangen haben, habe ich zu den Schauspielern gesagt, ich weiß es nicht, ich habe ein paar Ideen, aber kein Konzept. Wir machen das alles zusammen. Susanne Burkhard ist Lulu – mit jemand anderem würde es auch anders werden. Und so ist das ist eine sehr kollaborative Arbeit. In dem Sinne würde ich auch nicht von meiner Vision reden, aber ich schaffe sicher Bilder, die ich mag. Ich zeige den Menschen in Oberhausen nicht irgendwas, was ich selbst nicht mögen würde.
Was ist in Oberhausen anders als in Mechelen?
Das ist schwer zu sagen. Momentan ist es sich sogar ein bisschen ähnlich. Mechelen ist eine kleine Stadt, aber es ist tatsächlich ein bisschen auch wie Oberhausen, in Mechelen bin ich aufgewachsen und ich möchte nirgendwo anders sein. Ich habe Brüssel probiert, andere große Städte, aber ich möchte lieber dort leben. Ich kenne die Menschen, ich mag die Menschen. Es ist nicht exzessiv, es ist nicht wirklich aufregend für junge Leute, es ist die Arbeiterklasse, die da lebt, und ich mag das. Ich weiß noch nichts über das Publikum hier.
Ändern Sie die Schauspieler in Belgien?
Die Inszenierung gibt es nur hier.
Ich dachte, dass es eine Koproduktion mit ihrem Theater Abattoir fermé ist.
Ja, das stimmt, aber nur ich bin die Koproduktion. (lacht)
Das ist schade für Mechelen.
Ist aber eine schöne Idee. Wir wollten ursprünglich drei meiner Schauspieler in der Produktion haben. Aber dadurch, dass es hier im Repertoire laufen wird, ist das für die sehr schwierig. Meine Schauspieler können nicht so flexibel sein. Also haben wir uns dagegen entschieden. Aber es stimmt, das wäre bestimmt sehr interessant geworden. Vielleicht schaffen wir es in der Zukunft. Was wir aber tun, ist, dass wir Leute aus Mechelen mit dem Bus nach Oberhausen bringen: mein Publikum aus Mechelen im Oberhausener Theater.
Heute koexistieren längst verschiedene moralische Konzepte nebeneinander. Ist Jack the Ripper für sie ein reiner Vollstrecker der Moral der Gesellschaft oder eine Art gottgegebener Engel?
Das kommt natürlich darauf an. Für mich persönlich ist er mit Sicherheit erst einmal ein Psychopath, aber ich bin sehr glücklich, dass er in dieser Geschichte Lulu final getötet hat. Ich trauere um Lulu, aber ich bin nicht traurig, dass sie getötet wird. Das ist besser so. Es war eine schreckliche Welt und eine noch schrecklichere Gesellschaft, in der sie leben musste. Ich kann nicht über die Realität sprechen. Ich wünsche das niemandem. In diesem Albtraum ist es besser, es ergeht ihr wie einem Hund, den man aus seinem Elend befreit. Vielleicht war es also eher ein vom Teufel gegebener Engel.
„Lulu. Eine Mörderballade" | R: Stef Lernous | Fr 15.1.(P), Sa 16.1., Mi 20.1., Fr 22.1. 19.30 Uhr | Theater Oberhausen | 0208 857 81 84
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