Drei lange Tische mit weißen Tischdecken stehen zu einem Dreieck angeordnet im Bühnenraum auf PACT Zollverein, eine Tribüne für Zuschauer gibt es nicht. Etwas zögerlich nimmt das Publikum auf kleinen Hockern platz, die an den Innenseiten des Dreiecks platziert sind – wir drehen uns also gegenseitig den Rücken zu. Zu sehen gibt es erstmal nicht viel – nur die uns umschließenden nackten Wände der ehemaligen Waschkaue der Zeche Zollverein, unsere eigenen Hände auf der weißen Tischdecke und die Hände der NachbarInnen rechts und links. Es läuft nicht einmal Musik. Das einzige, was die Stille hin und wieder unterbricht, ist ein nervöses Fingertrommeln auf einem der Tische.
Dass dieser Abend ungewöhnlich werden würde, war schon früher am Eingang zu erkennen: Nicht nur Jacke und Tasche mussten abgegeben werden, sondern auch Uhren, Armreifen und Ringe: „Keep your hands free“. Partizipation wird groß geschrieben in der Freien Theaterszene, vielleicht größer denn je: Das Publikum wird immer öfter und auf vielfältige Weise eingebunden in die Performances, mal mehr und oft weniger gut gemacht.
Bei „In many hands“ wird das Teilnehmen des Publikums auf eine Ebene gehoben, die wir sonst vielleicht noch von Gruppen wie „hofmann&lindholm“ oder „pulk fiction“ kennen: Es gibt gar keine PerformerInnen, kein Geschehen auf einer Bühne, kein eigentliches Vorführen. Das, was die neuseeländische Künstlerin Kate McIntosh mit ihrem Team entwickelt hat, ist so einfach wie genial: An jedem der drei Tische sitzt am Kopfende eine Person, die Gegenstände herausgibt, die von Hand zu Hand, von Mensch zu Mensch weitergereicht werden. Erst ein großer Eiswürfel, es folgen Steine verschiedenster Art, ein dicker Hammer, eine tote Biene, ein Klumpen Erde, ein Klumpen Kaffee, Pulverfarbe, Algen und vieles mehr.
Gesprochen wird kaum, aber viel gekichert. Die Hände der SitznachbarInnen kennt man irgendwann gut. Und auch die Persönlichkeiten der Menschen lassen sich erahnen – ganz ohne Worte, allein durch die Art und Weise, wie sie mit den Dingen verfahren. Als die Tischdecken nach ca. 45 Minuten eingerollt werden, gibt es wohl niemanden im Raum, dessen Hände nicht völlig verdreckt sind, wie vielleicht zuletzt in Kindertagen. Eine Wanne mit Waschwasser wandert über die Tische und es wird die schriftliche Aufforderung erteilt, den Platz zu wechseln. Nun können sich alle anschauen.
McIntosh selbst sitzt an einem Kopfende und gibt wortlos die Impulse für das, was nun folgt: Mustere die Hände des Menschen rechts von Dir! Trommel mit seinen Fingern! Betrachte die Linien in der Handfläche! Dann plötzlich ein „Black“, der seinem Namen alle Ehre macht. Die eigene Hand vor Augen ist nicht mehr sichtbar. Und wieder gehen Gegenstände durch die Reihen, bevorzugt solche, die Geräusche machen, die keinen Rückschluss auf die Gestalt des Gegenstandes zulassen. Ein Ball aus Gaffa-Tape zum Beispiel – wenn es denn einer war, es muss bei der Vermutung bleiben. Dann „ein großes schwabbeliges Ding“, dann etwas, das eine große Drahtrolle sein könnte, schließlich ein langes Seil. Die Kommunikation zwischen uns erfolgt über die Hände. Gesprochen wird nicht, aber viel und laut gelacht. Teamwork in totaler Dunkelheit.
Selten sitzt ein „Publikum“ so sehr im gleichen Boot. Aber zugleich gibt es nur wenige Theaterabende, die derart persönlich erfahren werden. Einer der letzten Gegenstände in meiner Hand ist ein Sack mit trockenen Erbsen. Und plötzlich ergießt sich ein Erbsenregen auf die Tische und Köpfe. Zum ersten Mal an diesem Abend wird es laut – auch, weil so herzlich gelacht wird. Als die letzte Erbse gefallen ist und das Licht langsam wieder angeht, dauert es eine Weile, bis wir begreifen, dass dieser besondere Abend zu Ende ist. Zum Applaus erscheinen Kate McIntosh und ihre Gruppe nicht, im Grunde beklatschten die Teilnehmenden sich selbst.
„In many hands“ ist keine Inszenierung, keine Installation und auch keine Performance. Kate McIntosh bringt Menschen sehr unaufgeregt und leise dazu, eine Erfahrung zu machen. 90 Minuten „digital detox“. „Keep your hands free" wird zu „keep your mind free!“ Ein seltenes und wunderbares Angebot, sich auf sich selbst zu konzentrieren, ohne dabei die Mitmenschen aus dem Blick zu verlieren.
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