trailer: Herr Tombeil, Essen hat einen langen Weg hinter sich. Das Motto ihrer nächsten Spielzeit lautet: „Geschichte schreiben“. Wie lässt sich diese spezifische Historie auf der Bühne verhandeln?
Christian Tombeil: Die Geschichte des Ruhrgebiets ist mit der Deutschlands und Europas verbunden. Das ist ein bisschen in den Hintergrund gerückt. Unsere Eröffnungsproduktion „Biedermann und die Brandstifter“ hat etwa viel mit dem Rechtsradikalismus zu tun. Es geht aber auch darum, dass eine der ersten großen Bewegungen gegen den Rechtsextremismus diejenige gegen den Kapp-Putsch hier im Ruhrgebiet war. Das jährt sich 2020 zum hundertsten Mal. Dass hier die ganzen Arbeiter dagegen aufgestanden sind, ist ein hochinteressanter Vorgang.
Wie sehr müssen Kulturschaffende die Tatsache quasi ausgraben, dass sich damals die Rote Ruhr Armee gegen diesen Kapp-Putsch wehrte?
Das ist genau der Punkt: Der Kapp-Putsch spielt in vielen der Schullehrpläne keine Rolle. Aber gerade für die Region und für viele Menschen mit Migrationshintergrund in unseren Schulen wäre das eine Möglichkeit, wieder über den Sinn von politischer Identifikation und von politischer Gegenwehr zu sprechen. Wenn jetzt viele bei der Kultusministerkonferenz feststellen, dass wir zu wenig politische Bildung an den Schulen haben, dann sickert diese Erkenntnis endlich durch. Aufgrund dieser Geschichte im Ruhrgebiet gibt es also tolle Anknüpfungspunkte, mit politischer Bildung umzugehen. Und diese machen einen stolz auf die Umbrüche, die man hier geschafft hat.
Erfolgreiche Umbrüche im Ruhrgebiet? Habe ich etwas verpasst?
Ich war letztens bei der Eröffnung der Elbphilharmonie. Und die Hamburger sagen alle: „Wir kommen ins Ruhrgebiet, um von Euch zu lernen, wie Integration geht.“ Da ist was dran, weil hier im Bergbau 150 Jahre lang fremde Nationen integriert wurden. Das hat uns quasi dazu gezwungen, über den Umgang mit fremden Menschen und Kulturen nachzudenken. Wir sind hier die einzige, wirkliche Metropolregion Deutschlands mit mindestens fünf Millionen Einwohnern. München, Hamburg oder Berlin kommen da nicht dran. Alleine die Ausdehnung, das ist die dichteste Stadtfläche, die wir haben.
Aber dieser Umbruch hat auch viele Verlierer ...
Im Projekt „Arbeiterinnen“ beleuchtet die Werkgruppe2, ein Künstlerinnenkollektiv, wie der Strukturwandel aus Sicht der Frauen funktioniert. Auch Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ beschäftigte sich schon Ende der 1920er Jahre mit der Frage: Was ist, wenn ich durch eine Rezession ums Überleben kämpfen muss? Diese Fragen stellen sich heute auch viele Katernberger und Stoppenberger. Es gibt in Essen Haushalte, in denen zwei Personen hauptberuflich arbeiten, und es dennoch nicht ausreicht, eine vierköpfige Familie zu ernähren. Das ist ja ein Systemproblem, nicht das Problem dieser Menschen.
In Stadtteilen wie Karnap haben um die 20 Prozent Guido Reil gewählt. Volker Lösch, der auch für das Grillo-Theater arbeitet, hat für ein Projekt in Dresden mit AfD-Sympathisanten geredet. Ist das auch in dieser Stadt vorstellbar?
Ich selbst wohne ganz bewusst in Altenessen. Wenn du dich mit den Leuten dort unterhältst, sagen sie wie neulich vor der Europawahl, dass sie alle den Guido wählen. Dann frage ich zurück: „Wie, ihr wählt Guido?“ – „Ja, Guido ist ein Kumpel“, antworten sie.
Er war lange Bergmann ...
Es wird noch schlimmer. Dann sage ich: „Aber Guido ist in der AfD, nicht mehr in der SPD!“ Und die Erklärung ist dann, dass sie ihn schon seit 20 Jahren wählen. Du kommst dann also dahinter: Sie wählen Guido Reil und nicht die AfD. Die würden ihn auch wählen, wenn er bei der CDU oder den Grünen wäre. Er ist beim Grillfest, beim Sportverein oder in der Synagoge. Er ist einfach dieser Kumpeltyp. Dieses Beispiel zeigt mir, dass es mehr Mitläufer gibt, als wir denken.
Selbstverständlich ist es ja nicht, dass tragende Kulturschaffende im Essener Norden leben. Wie kam es dazu?
Viele Kollegen aus der Angestellten- und Arbeiterschaft meinten damals: „Du musst als Chef in den Süden, du kannst nicht im Norden wohnen.“ Am Anfang konnte ich mir nicht vorstellen, dass die A40 wirklich die Grenze der Überwindung ist. Das ist genau das, was wir mit dem Projekt „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“ darstellen wollten. Wir wussten ja nicht, ob das klappt. Das Projekt hätte uns ja auch um die Ohren fliegen können. Aber diese Welten haben wir zusammengebracht.
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