Wer weiß, woher der Begriff „Ghetto“ kommt? Am 29. März 1516 beschloss die Regierung von Venedig, die jüdische Gemeinde in einem Stadtviertel zusammenzulegen. Dort, wo sich eine Gießerei befand, italienisch „Geto“. Der Name wird später verdeutscht. Das Viertel war von den anderen abgetrennt, abends wurden die Tore geschlossen, in der Früh wieder geöffnet. Jüdische Einwohner waren weiteren Restriktionen unterworfen: Sie mussten bestimmte Kennzeichen tragen, durften nur Händler oder Geldverleiher werden. „Daraus entwickelten sich große Banken. Das Ghetto in Venedig war die Wallstreet der Frühen Neuzeit“, erklärt Eva Haller, Präsidentin der Janusz Korczak Akademie, die Wissen über das Judentum vermittelt, bei der Ausstellungseröffnung in Duisburg. Und erzählt weiter: „Venedig war ein Zentrum der Macht, in dem sich Orient und Okzident trafen. Über 400 Nationen lebten dort.“ Synagogen wurden im Stil christlicher Kirchen gebaut und beeindruckten durch Pracht und Goldschmuck. Davon zeugen die Fotografien von Davide Calimani in der Ausstellung. Doch nach 500 Jahren ist das Leben der Juden ist nicht mehr golden. „Ich habe den Fotografen Lino Sprizzi gebeten, das heutige Leben in Schwarzweiß aufzunehmen“, so Eva Haller. „Die Bilder zeigen den Alltag, wie Juden mit Tallit, dem Gebetsmantel, und Kippa, der Kopfbedeckung, zur Synagoge gehen.“ In der Ausstellung wird der Geschichte des ersten Ghettos der des letzten gegenübergestellt: jenes in Shanghai.
1938 besetzte die deutsche Wehrmacht Österreich, vollzog den „Anschluss“. Nun wurden österreichische Juden genauso verfolgt wie deutsche. Emigrieren konnte nur, wer hohe Zahlungen leistete und eines der raren Visa für einen sicheren Staat ergatterte. Nur an einen Ort konnten Juden noch reisen: Shanghai, das von Kolonialmächten regiert worden war und seit 1937 unter japanischer Herrschaft stand. Ho Feng-Shan, der chinesische Generalkonsul in Wien, stellte Ausreisevisa aus, Tausenden gelang so die Flucht. Peter Finkelgruen, 1942 als Kind Prager Eltern in Shanghai geboren, erzählt: „Es gab drei Routen. Die erste war über See, die zweite über Land durch Russland und China. Auf der Dritten fuhr man mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, per Schiff weiter nach Japan und Shanghai.“ Im Stadtbezirk Hongkou lebten 20.000 jüdische Flüchtlinge mit Chinesen Tür an Tür. Doch Anfang 1943 forderte der deutsche Gesandte Josef Meisinger von den Japanern die „Endlösung“. Der Kompromiss war, Hongkou zum Ghetto zu erklären. Peter Finkelgruen: „Eine Mauer war nicht nötig, denn als europäischer Jude wurde man automatisch auf der Straße erkannt.“ Die meisten lebten in Armut, litten Hunger und starben an Krankheiten aufgrund katastrophaler hygienischer Umstände. Finkelgruen: „Oft lagen Kinder tot in der Straße, mit denen man Tage zuvor noch gespielt hatte.“ Doch es entwickelte sich auch künstlerisches Leben mit Theater, Kabarett und Wiener Café. Die österreichische Jüdin Franziska Tausig erzählte folgende Geschichte: Sie musste in einem Restaurant in Shanghai Wiener Apfelstrudel backen. Einmal hatte sie Teig übrig und füllte diesen mit Gemüseresten. Die Chinesen waren von dem Gemüsestrudel begeistert und gaben ihm, da gerade die Frühlingssonne durchs Fenster schien, den Namen „Frühlingsrolle“.
Erst September 1945 wurde das Shanghaier Ghetto von den Amerikanern befreit. Nach der chinesisch-kommunistischen Machtübernahme 1949 verließen fast alle Juden die Stadt.
„1516 – 2016. Vom ersten jüdischen Ghetto in Venedig zum letzten jüdischen Ghetto in Shanghai“ | bis 15.1. | Treppenhaus, Yitzhak-Rabin-Platz, Duisburg | 0211 16 36 62 13
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