„Literatur im Carré ist schon eine Marke geworden“, sagt Bernd Jeucken, Leiter der Stadtbibliothek Hattingen, einleitend – 120 verkaufte Tickets für die schon seit Wochen ausverkaufte Samstagabend-Veranstaltung (6.2.16) mit Night-Talker Domian belegen dies. Eigentlich hätte die Vorstellung seines Buches „Richtig leben“ (2014) bereits Anfang November 2015 in der Bibliothek im „Reschop Carré“ stattfinden sollen, doch die Premiere des Dokumentarfilms „Interview mit dem Tod“ in der Essener Lichtburg warf den Terminplan über den Haufen. Hatte sich Domian in der 2012 erschienenen Buchvorlage mit dem Sterben auseinandergesetzt, wollte er den literarischen Fokus zwei Jahre später deutlich variieren: „Ich habe ein Buch über den Tod geschrieben und gedacht, ich muss auch noch eins übers Leben schreiben“, so der Autor. Und doch setzt er mit der einleitenden Frage, ob man seine Lebensgeschichte rückblickend noch einmal durchlaufen wolle, zunächst wieder beim Ende der individuellen Vita an. Domian würde „nur einzelne Abschnitte davon“ noch einmal durchleben und diese Frage damit wohl durch ein klares ‚Jein‘ beantworten wollen. Dies ist immerhin besser als eine völlige Desillusionierung am Lebensende: „Gibt es etwas Schlimmeres als auf dem Sterbebett erkennen zu müssen, dass man falsch gelebt hat?“
Diese Erkenntnis jedenfalls machte Elisabeth, eine von über 20.000 AnruferInnen in Domians seit April 1995 im WDR-Fernsehen und Eins-Live-Hörfunk ausgestrahlter Telefon-Talkshow, die im Dezember 2016 letztmals gesendet werden soll. Die todkranke 48-jährige ehemalige Führungskraft eines Dax-Konzerns rief Domian verzweifelt aus einem Hospiz an: „Ich habe mein ganzes Leben immer nur an mich gedacht – und deshalb denkt jetzt, wo ich bald sterben werde, niemand an mich.“ Nun sei es jedoch „zu spät“ für Sühne: „Es gibt keinen Ausweg und keine Hoffnung mehr. Ich kann gar nichts mehr gutmachen.“ Um „nach oben zu kommen“, habe sie stets „alles und alle beiseitegeboxt“, wobei ihr die „Gefühle der anderen völlig egal“ gewesen seien. Selbst der eigenen sterbenden Mutter gegenüber sei sie nicht „loyal“ gewesen, indem sie wegen eines beruflichen Auslandstermins nicht Ihrer Bitte gefolgt sei, ihr beizustehen, als diese im Sterben lag. Domians Antwort, dass er „großen Respekt“ vor ihrer späten Reue habe und ihr „von Herzen einen schnellen Tod und ein friedliches Sterben“ wünsche, lässt der Autor selbst durch eine lakonische ‚Stimme aus dem Off‘ kommentieren, deren Einwürfe leitmotivisch im Buch wiederkehren: „Domian, du redest wie ein Pfaffe. Ich finde, Elisabeth hat es richtig gemacht. Nun ja, ein paar Gewissensbisse am Ende ihres Lebens. Aber – was soll’s?“
Die Basis seiner Betrachtungen geriert sich philosophisch fundiert – hat Domian doch einige Recherche-Arbeit auf sich genommen, um sich beispielsweise mit Albert Camus‘ einleitend zitiertem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ (1942) auseinanderzusetzen: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem, den Selbstmord. Die Entscheidung, ob sich das Leben lohne oder nicht …“ Erst wenn man das Leben als solches annehme und sich gegen den Tod entscheide, sei die Frage relevant: „Wie lebt man richtig?“ Diese stelle sich heute angesichts von zunehmender kultureller Entwurzelung, Orientierungslosigkeit, „Individualitätswahn“ sowie einer mit ‚spiritueller Leere‘ einhergehenden „Hochkonjunktur des Narzissmus und der Egozentrik“ in den ‚westlichen Kulturen‘ mehr denn je. Welche Instanz mit welchem Objektivitätsanspruch aber die Richtigkeit einer Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben verifiziere, bleibt Jürgen Domian seinen LeserInnen letztendlich jedoch schuldig.
Um die Suche nach einem ‚richtigen Weg‘ zu erleichtern, referiert Domian in seinem bei der Lesung von ihm als „Ratgeberbuch“ bezeichneten Werk wiederholt auf den Zen-Buddhismus; dieser aber scheint eher neue Rätsel aufzugeben als tatsächlich ein spiritueller Wegweiser zu sein: „Denn fragt man einen Zen-Meister, was Zen lehre, so erhält man zur Antwort: ‚Nichts.‘“ Sich längere Zeit mit dem hierdurch implizierten Streben nach reinigender Klarheit und dem Zustand mental erleichternder Leere auseinanderzusetzen, fiel Domian selbst jedoch zunehmend schwer, als er auf einer mehrwöchigen Wanderung durch Lappland versuchte, sich dem Ideal des mentalen ‚Nirwana‘ anzunähern. „Ist das deine letzte Hoffnung?“, lässt der Autor seine innere ‚Stimme aus dem Off‘ zurecht fettgedruckt fragen, „eine Religion, die keine ist?“
Zudem arbeitet sich Jürgen Domian in „Richtig leben“ an einem normativen Konzept ab, das religiöser kaum sein könnte und sondiert kapitelweise, was vielleicht die brauchbare Essenz kirchlicher Verfemung der ‚sieben Todsünden‘ von Eitelkeit bis Wollust sein könnte. In letzterem Kapitel zitiert er hierbei – beinahe voyeuristisch – de Sade („120 Tage von Sodom“). Spirituelle Zuflucht sucht Domian auf seiner autobiographisch geprägten moralischen Zeitreise zuweilen im Kloster – nämlich bei der Kölner Dependence des Karmeliter-Ordens. Auf die Presse-Frage, wie denn der Anspruch eines spirituellen Selbstfindungstrips für möglichst alle Menschen dieser mit zunehmend eingeengten Wahlmöglichkeiten behafteten Gesellschaft mit der Lebensrealität zusammenpasse, flieht der Night-Talker mental sogleich ins Kloster: Trotz asketischen Lebens würden die Nonnen schließlich ein Leben im Zeichen von Achtsamkeit und Meditation auf der Suche nach dem ‚mittleren Weg‘ (durchaus auch im buddhistischen Sinne) führen. Diese Antwort geht aus Sicht einer Zuhörerin im Saal am Thema vorbei – schließlich würden die Klosterfrauen im Vergleich zu Obdachlosen ein „Luxusleben“ führen. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno, der an diesem Abend leider nicht zitiert wird, hätte sich jedenfalls im Grabe umgedreht. Hat er doch in seiner 1951 erschienenen Schrift „Minima moralia“ die vielzitierte Erkenntnis formuliert, es gebe kein richtiges Leben im Falschen – womit er den Kapitalismus meinte.
Ein weiterer Wehrmutstropfen in Verbindung mit Domians moralischer Night-Talk-Reflexion soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden: So würden beispielsweise erkennbar suizidale Anruferinnen und Anrufer, die gar nicht erst zu Domians Talk-Show durchgestellt würden, regelmäßig anhand ihrer Festnetz- oder Handy-Standorte geortet, um (von diesen vielleicht gar nicht erwünschte) Soforthilfe auf den Weg zu bringen. Im Falle konkret vermuteter schwerer Straftaten käme es nach einem Anruf zudem vielfach zur Einleitung polizeilicher Ermittlungen. Dies wiederum wirft die konkrete moralische Frage auf: Wo endet der Vertrauensschutz gegenüber gutgläubigen, verzweifelten Menschen, die Domian ihre Geheimnisse anvertrauen und sicherlich genauso auf der Suche nach dem richtigen Weg sind wie Sterbende im Hospiz? Vielleicht sind Zweifel dieser Art ja auch ein Grund dafür, warum der 57-Jährige medial neue Wege gehen möchte. Zumindest in diesem Punkt dürfte Jürgen Domians nächstes angedachtes Projekt entspannter daherkommen – ein Talk-Show Format zusammen mit Comedian Atze Schröder.
Jürgen Domian: Richtig leben … und dann tu, was du willst | Gütersloher Verlagshaus (2014) | 15,99 €
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