Kultur gibt's nur im urbanen Raum – meint der ignorante Großstadtbewohner. Zwei alte Musiker und eine Drehorgel liefern den Gegenbeweis, auf einer malerischen Wasserburg, tief im Münsterland.Genauer gesagt: In Lüdinghausen. Der Weg dorthin führt vorbei an Recklinghausen und Marl, raus aus dem Revier über schier endlose Landstraßen, auf denen die Fernfahrer schleichen, aus Sorge, ihre Ausfahrt zu verpassen – wer weiß, wann die nächste kommt, zwischen Flaesheim und Hullern. Das Ziel ist die Burg Vischering, eine von Wald, Parks und Wasser umschlungene Burg aus dem 13. Jahrhundert. Der Konzertsaal: gutbürgerlich, ordentlich. Der erste Eindruck, den die beiden Musiker machen: Aufmacher im Kulturteil der Lüdinghauser Dorfgazette.
Weit gefehlt: Bassklarinettist Riessler ist nicht nur Träger des Jahrespreises der Deutschen Schallplattenkritik 2012 und des Kultursterns der Münchener AZ, er spielte auch schon mit Musikern wie John Cage (US-amerikanischer Star der Neuen Musik, außerdem Maler und Pilzforscher) und begleitete Hörspiele und Filme, zum Beispiel Edgar Reitz' Vormärz-Epos „Die andere Heimat". Sein Partner, der Pariser Pierre Charial, interpretierte Mozarts und Haydns Werke zu mechanischen Musikinstrumenten neu – oder entdeckte sie überhaupt. Nachdem er und seine Oboe die Jazz-Szene unsicher machten oder mit Frank Zappa-Drummer Terry Bozzia abhingen, griff er zur Drehorgel und dreht seitdem am Rad.
Und genau das tut er auch in Lüdinghausen: 3 Register, 42 Tasten und 114 Pfeifen lassen hypnotische Klänge entstehen. Oder unendliche Weiten an Bassflächen, die nötige Spielwiese, die Riessler für seine schwindelerregenden Improvisationen auf der Bassklarinette braucht.
Das kann, allen ersten Eindrücken trotzend, auch ziemlich groovy klingen: wenn er das Blas- als Tasteninstrument spielt oder gleich als Percussion nutzt. Dann zerfallen alle Melodien und Strukturen wieder rasch in ein unruhiges Piepen oder gleich in Vogelgezwitscher. Daraus steigen neue, andere Klänge empor, die Drehorgel verarbeitet Lochkarte nach Lochkarte und am Ende dieser Sequenz erhebt sich die Musik zu einem pompösen, fast liturgischem Fanal. Und dann wieder von vorn, nur anders.
Was das Duo auszeichnet ist, dass es das Experiment wagt, seine Musik aber gleichzeitig genießbar hält: Man staunt über das Können der Künstler, aber nicht nur. Man kann auch einfach die Augen schließen, sich zurücklehnen und in unerforschten, musikalischen Weiten verlieren.
Kultur gibt's also – natürlich – nicht nur in der Großstadt. Und eine Wasserburg hat als Spielort nochmal einen ganz anderen Reiz, als die im Revier üblichen Zechen. Das zeigt das Projekt Soundseeing, das Klangkunst im ganzen Münsterland auf die Bühne bringt, auch noch in den nächsten Wochen: Zum Beispiel mit Ralf Schreibers Klangbaum-Installation im Alten Amtsgarten der Burg Nienborg (30.9., 14 Uhr) oder am 21. und 22. Oktober, beim Splash-Percussion-Konzert in der Landesmusikakademie NRW in Heek-Nienborg.
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