trailer: Herr Bergmann, wie geht es Ihnen im Jahre Eins nach Pleitgen?
Holger Bergmann: Diese Formulierung ist vielleicht etwas zu personalisiert. Nach dem Jahr, in dem uns ein Hauch von Metropole um die Nase wehte, geht es dem Ringlokschuppen gut. Die verschiedenen Grenzen zwischen Freiem Theater und städtischen Häusern sind wie noch nie in Bewegung gekommen. Das Theater der Welt möchte ich auch in diesem Jahr nicht missen. Die Kulturhauptstadt wollte allerdings ein Schneller-Höher-Weiter vermitteln. Das konnte angesichts der Situation der Städte in der Finanzkrise nicht wirklich gelingen.
Heißt es jetzt also Langsamer-Tiefer-Näher?
Im Kaffeesatzlesen bin ich nicht geübt. 2011 wird eine spannende Zeit. Wir müssen nun definieren, was Nachhaltigkeit ist. Ist die Partizipation von Millionen von Menschen auf der Autobahn nachhaltig, oder eine Aktion, bei der gelbe Luftballons in den Himmel gehängt werden? Partizipation als ein Wert zum Erhalt demokratischer Freiheit sollte mehr sein als die Eventisierung von Geschichte, Alltag, Kultur. Eine inhaltliche, gestalterische Beteiligung hat der Kulturhauptstadt in weiten Teilen gefehlt.
Was wäre möglich gewesen?
Im Ruhrgebiet gibt es so eine Grundhaltung „Alles schon erlebt, nur nicht selbst“. Es wurde der Mythos Arbeit von denjenigen beschworen, die ihn gar nicht kennen. Es wurden von zentraler Stelle Ballons bereitgestellt. Das Publikum musste nur noch die Halteseile abwickeln. Es wurde vorgesetzt, statt zu fragen „Was hast du denn erlebt?“ und „Wie wollen wir leben?“. Aus den Antworten vieler wird eine Kultur sichtbar, und Kunst kann diese Fragen vielschichtig aufwerfen.
Besser fragen als vorsetzen?
Genau. Das ist das generelle Kulturverständnis dieses Hauses hier.
Das genau repräsentiert doch auch der Gründungsmythos der Freien Theater. Nicht mehr höfisches Theater, sondern Theater vom Volk fürs Volk?
Dieser Gedanke der Freien Gruppen, auch das kollektive interdisziplinäre Arbeiten, um Welt darzustellen, der Respekt vor anderen Kulturkreisen, anderen Minoritäten, findet sich inzwischen auch immer mehr in städtischen Häusern. Wir haben gelernt und zeigen auch auf der Bühne, dass das Leben noch etwas turbulenter, verwickelter geworden ist, als es mit dem „klassischen Kanon“ dargestellt wird.
Was wird aus dem Ringlokschuppen in den nächsten Jahren?
Wir möchten gern eine nicht nur kommunale, sondern regionale Schnittstelle zwischen Freiem Theater, Städtischem Theater, neuen Produktionsformen und internationalen Produktionen werden. Es soll mehr Projekte wie „Die Eichbaumoper“ geben mit Bürgerbeteiligung, Transformationsprozesse im öffentlichen Raum. Im gesamten Ruhrgebiet gibt es kein vergleichbares Zentrum, das für so eine Schnittstellenfunktion steht.
Die Kulturpolitik von Schwarz-Gelb wurde auch von der Freien Szene gelobt. Sind die Chancen der Finanzierbarkeit eines solchen Projektes durch die Wahl der neuen Landesregierung weiter gestiegen?
Tatsächlich ist es der alten Landesregierung gelungen, den Kulturhaushalt zu verdoppeln. Der Kulturbegriff, der dem zugrunde lag, schien mir allerdings ein wenig verstaubt. Aber inzwischen findet die Auseinandersetzung nicht mehr zwischen den Parteien statt, sondern zwischen Kultur- und Finanzpolitikern aller Parteien. Die Farben der politischen Landschaft reichen nicht aus, um die Bilder der Kunst zu malen. Wir brauchen eine größere Palette.
Brauchen Sie auch mehr Geld?
Unser kommunaler Zuschuss liegt bei etwas mehr als 500.000 Euro jährlich. Das hört sich zunächst okay an. Für das Gebäude zahlen wir an eine städtische Marketinggesellschaft Miete und Nebenkosten von etwa 320.000 Euro. So beträgt der wirkliche Zuschuss knapp 200.000 Euro. Dazu kommt seit 2010 eine institutionelle Landesförderung von 60.000 Euro. Die Fördersumme macht aber nur ein Viertel unseres Umsatzes aus. Wir haben es geschafft, in einem Segment, das hochsubventioniert wird, eine sowohl künstlerisch avancierte Arbeit zu machen wie auch eine Arbeit, die sich mit der Region verbindet. 2011 sind wir mit einer Produktion beim Tokyo-Festival. 2010 haben wir mit einer Produktion den Deutschen Theaterpreis für Tanz gewonnen. Dagegen steht eine Fördersituation, die uns im Unklaren lässt, wie es in drei Monaten mit Produktionen weitergeht. Wenn das
Kulturhauptstadtjahr damit endet, dass nur die Schauspielhäuser gerettet werden, die industriekulturelle Eventisierung weiter gestützt wird, da noch ein Festival und dort noch ein Philharmonisches Musikzentrum eröffnet wird, weitere Millionen ins „goldene U“ gesteckt werden, aber die Freien Häuser auf der Strecke bleiben, würde die Kulturpolitik die Zukunft versäumen. Die Häuser der Freien Kultur leisten sehr kreative Arbeit ohne viel Geld. So etwas können aufgesetzte Großprojekte nicht leisten. Mit Geld müssen jetzt Akzente gesetzt werden.
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