trailer: Herr Hanke-Lindemann, RUHR.2010 – was soll das Theater?
Horst Hanke-Lindemann: Mir fällt zur Kulturhauptstadt mehr ein als Theater. Ich freue mich auch auf die Retrospektive von Ruhrgebietsfilmen in der Schauburg mit Adolf Winkelmanns „Die Abfahrer“ und „Jede Menge Kohle“.
Lauter olle Kamellen.
Natürlich, aber die sind wichtig. Der Besucher, der heute ins Ruhrgebiet kommt, kann sich ja gar nicht mehr vorstellen, wie es früher hier mal war.
Zweiter Versuch: Was soll das Theater?
Im Spiegelzelt am Dortmunder U werden wir die Giganten des Ruhrgebiets präsentieren. Alles, was an Kabarett aus der Region, aber auch aus anderen Mundartbereichen kommt, wird in den 90 Tagen Programm zu sehen sein. Das soll das Theater.
Werden die Kabarettisten des Ruhrgebiets überhaupt ausreichend gewürdigt?
Wir verleihen in diesem Jahr erstmalig den Tana-Schanzara-Preis für junge darstellende Künstler. Als wir das Sommerkabarett 2008 planten, kam uns die Idee, das Ganze im Kulturhauptstadtjahr noch viel größer aufzuziehen. Dazu wollten wir auch Tana Schanzara einladen, die aber leider im Dezember starb. Wenig später hatten Fred Ape und ich die Idee, einen Tana-Schanzara-Preis zu vergeben. Den Namen verbindet man eher mit der Nachbarstadt. In Bochum hat man sich auch mächtig aufgeregt, warum Dortmunder diesen Preis vergeben. Da mussten wir denen erst mal erklären, dass die berühmte Schauspielerin in Dortmund-Eving aufgewachsen ist. Ergebnis des Streits ist, dass es bald einen Tana-Schanzara-Platz geben wird, in Bochum, direkt gegenüber vom Schauspielhaus.
Warum nennen Sie Ihre Veranstaltungsreihe RuhrHOCHdeutsch?
Hier wurde ja ursprünglich mal hochdeutsch gesprochen. Dann kamen die Polen und Tschechen, um sich in den Kohlegruben zu verdingen und später die Italiener, Jugoslawen, Portugiesen, Spanier und Türken, um auch in anderen Gewerken zu arbeiten. So hat sich immer wieder die Sprache hier verändert. Neben der künstlerischen Bearbeitung wird es auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dialekt im Rahmen eines Symposiums geben. Ich finde die Kombination von Anspruchsvollem und Unterhaltung sehr wichtig.
Der Titel klingt nach mathematischer Formel.
Es gab ja die Kampagne „Ruhr-hoch-N“ im Ruhrgebiet, auf die unser Titel anspielt. Mit Millionenbeträgen hatte man versucht, das Ruhrgebiet weltweit zu vermarkten. Zu diesem Flop hat das Spardosenterzett eine Hymne geschrieben. Wo so viel Dummheit fabriziert wird, muss das Kabarett tätig werden.
Macht das Fletch Bizzel speziell was zu RUHR.2010?
Nein, wir haben als Ensemble zwar 30jähriges Jubiläum, die Spielstätte hat 25jähriges Jubiläum, aber wir sind keine Abfeierer. Natürlich machen wir wie jedes Jahr feine Sachen. „Der Menschenfeind“ wird mit neun Leuten auf der Bühne aufgeführt. So große Ensembles gibt es selten im freien Bereich. Wir produzieren erstmalig ein Kindertheaterstück. Und am 4. September findet die Theaternacht statt, die wir ja auch noch mal so eben nebenbei organisieren. Wir machen sie wie 2007 am Dortmunder U. Übrigens, die Fotos vom U, bei dem es so schön bunt angestrahlt ist, stammen von jener 6.Theaternacht. Durch die Theaternacht konnten viele Zweifler überzeugt werden, aus dem U ein Kreativquartier zu machen. Es ist uns überhaupt immer wichtig, Meilensteine zu setzen, die man nicht mehr umstoßen kann.
Jetzt mal ein Stopp mit dem Frohlocken. Was gibt’s zu meckern?
Alle wollen gern, dass man über RUHR.2010 meckert. Das ist aber gar nicht so einfach. Die Verantwortlichen in der Brunnenstraße in Essen wollten RuhrHOCHdeutsch zunächst gar nicht haben. Wir versicherten noch, dass sie das keinen Cent kostet. Trotzdem waren die nicht zu überzeugen. Erst habe ich mich geärgert. Dann habe ich gesagt: „Egal, machen wir trotzdem!“ Nun werden wir nachträglich in die Werbung mit aufgenommen. Wenn wir nichts gemacht hätten, hätten wir jetzt natürlich besser meckern können.
Was passiert 2011?
Wir werden weiterhin gute Kultur präsentieren und hoffen, dass wir all unsere Visionen finanzieren können. Es wird bei der Kulturförderung Einschränkungen geben, weil der Politik der Mut fehlt, die Banken in ihre Grenzen zu weisen. Der Mensch ist ein Spieler. Wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, mit echtem Geld Monopoly zu spielen, dann machen die das. Und nun fehlt das Geld im städtischen Haushalt. Bei den freien Kulturschaffenden wird man als erstes sparen. Die Freien werden sich aber nicht ins Mauseloch verziehen, sondern eher noch weiter selbst ausbeuten. Allerdings darf das Sparen nicht an die Substanz gehen. Wenn man einmal das Fletch Bizzel, den Ringlokschuppen und das Prinz-Regent-Theater zumacht, macht man die nicht mehr auf.
Sind Sie zufrieden mit Ihrem neuen alten Bürgermeister?
Ja, ich glaube, dass Ulli Sierau den Überblick behalten kann. Zumindest vor der Wahl sagte er, dass er die freie Kultur weiter fördern will und dass Bildung die wichtigste Investition in unsere Zukunft ist. Sierau ist jung genug, hat junge Kinder und eine Frau, die Lehrerin ist. Er fühlt den Puls der Zeit nicht am Handgelenk, sondern da, wo er besonders heftig schlägt: in der Familie. Der Rat der Ehefrau kann ganz wichtig sein. Ich liebe die Kritik meiner Frau.
Interviewserie „Über Tage“
„Über Tage“ handeln, ohne „unter Tage“ zu vergessen. trailer-ruhr spricht mit streitbaren Menschen über das Ruhrgebiet.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
„Was im Ruhrgebiet passiert, steht im globalen Zusammenhang“
Die Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken über den Strukturwandel – Über Tage 03/24
„Einer muss ja in Oberhausen das Licht ausmachen“
Fußballfunktionär Hajo Sommers über Missstände im Ruhrgebiet – Über Tage 02/24
„Mir sind die Schattenseiten deutlicher aufgefallen“
Nora Bossongüber ihre Tätigkeit als Metropolenschreiberin Ruhr – Über Tage 01/24
„Hip-Hop hat im Ruhrgebiet eine höhere Erreichbarkeit als Theater“
Zekai Fenerci von Pottporus über Urbane Kultur in der Region – Über Tage 12/23
„Das Ruhrgebiet erscheint mir wie ein Brennglas der deutschen Verhältnisse“
Regisseur Benjamin Reding über das Ruhrgebiet als Drehort – Über Tage 11/23
„Kaum jemand kann vom Schreiben leben“
Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut über die Literatur der Arbeitswelt – Über Tage 10/23
„Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches im Ruhrgebiet zu sehen“
Fotograf Henning Christoph über Erfahrungen, die seine Arbeit geprägt haben – Über Tage 09/23
„Man könnte es Stadtpsychologie nennen“
Alexander Estis ist für sechs Monate Stadtschreiber von Dortmund – Über Tage 08/23
„Für Start-ups sind die Chancen in Essen größer als in Berlin“
Unternehmer Reinhard Wiesemann über wirtschaftliche Chancen im Ruhrgebiet – Über Tage 06/23
„Radikale Therapien für die Innenstädte“
Christa Reicher über die mögliche Zukunft des Ruhrgebiets – Über Tage 05/23
„Das Ruhrgebiet wird nie eine Einheit werden“
Isolde Parussel über Hoesch und den Strukturwandel – Über Tage 04/23
„Gemessen am Osten verlief der Strukturwandel hier sanft“
Ingo Schulze über seine Erfahrungen als Metropolenschreiber Ruhr – Über Tage 02/23
„Im Fußball fanden die Menschen den Halt“
Ben Redelings über die Bedeutung des Ballsports im Ruhrgebiet – Über Tage 01/23
„Typen wie wir verewigen einen Ruhrpott-Charme“
Gerrit Starczewski über seinen Film „Glanz, Gesocks & Gloria“ – Über Tage 12/22
„Dieser Arbeitskampf bestimmte unser Leben“
Brigitte Sonnenthal-Walbersdorf über den Streik der Hoesch-Frauen – Über Tage 11/22
„Die Transformation liegt hier in der Luft“
Sofia Mellino über ihren Film „Future Ruhr“ – Über Tage 10/22
„Die junge Generation macht hier einfach ihr Ding“
Sandra Da Vina über die Kreativbranche im Ruhrgebiet – Über Tage 09/22
„Wir Ruhrgebietsmenschen sind kleine Gallier“
Hennes Bender über seine Asterix-Bände und den Charme des Potts – Über Tage 08/22
„Zeit, sich diverser zu präsentieren“
Rapper Schlakks über Potentiale und Kolonialismus im öffentlichen Raum – Über Tage 07/22
„Ruhrgebiet hatte immer etwas Mythisches“
Metropolenschreiber Ruhr Ariel Magnus über fremden Blick auf die Region – Über Tage 12/20
„Über Generationen immer weitergegeben“
Autor Christoph Biermann über die identitätsstiftende Bedeutung von Schalke – Über Tage 11/20
„Hauptsache, Kunst erreicht die Herzen“
Musikerin Anke Johannsen über Kreativität und Haltung im Ruhrgebiet – Über Tage 10/20
„Sozialer und politischer Sprengstoff“
Soziologe Andreas Reckwitz über gesellschaftliche Dynamik in Metropolen – Über Tage 09/20
„Jetzt sollten wir den Sprung wagen“
Politikwissenschaftler Claus Leggewie über Multikulturalität im Ruhrgebiet – Über Tage 08/20