Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
6 7 8 9 10 11 12
13 14 15 16 17 18 19

12.581 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Inmitten rasender Tiergesichter, tyrannischer Herzköniginnen und trügerischer Bessermacher
Foto: Schorsch Kamerun

„Mein Wunderland ist auf jeden Fall experimentell“

24. Januar 2013

Schorsch Kamerun über die Uraufführung „Alle im Wunderland“ am Theater Oberhausen – Premiere 02/13

Der Punkmusiker und Regisseur Schorsch Kamerun („Goldene Zitronen“) entdeckt in dem 1865 erschienenen und zum Klassiker der englischen Kinderliteratur gewordenen Kinderbuch „Alice im Wunderland“ den existentiellen Entwurf einer immer schwerer zu fassenden Welt. Statt der Titelheldin Alice schickt er in seiner neuen Produktion am Theater Oberhausen Bürger aus dem Ruhrgebiet auf eine musiktheatrale Erlebnisreise und damit durch ihre höchst persönlichen, unsicher gewordenen Wunderländer. Kamerun überträgt Strategien des heutigen Überlebens im spätkapitalistischen Wunderland in Songtexte für „Alle im Wunderland“.

trailer: Herr Kamerun, „Alle im Wunderland“ ist ein theatrales Bürgerkonzert. Können alle Oberhausener plötzlich musizieren?
Schorsch Kamerun:
Es geht nicht nur um Oberhausener Bürger, sondern eigentlich um Leute hier aus der Gegend. Und musizieren? Davon gehe ich aus. Ich halte ja die Menschen für grundmusikalisch und irgendwie auch für grundtheatral. Aber wir haben auch eine kleine professionelle Musikantengruppe dabei.

Die Ziele der Gesellschaft scheinen blödsinnig. Haben wir eine Krise der Utopie?

Schorsch Kamerun
Foto: Inge Mathes
Schorsch Kamerun ist in Timmendorfer Strand geboren und lebt seit den frühen 1980er Jahren in Hamburg, mittlerweile auch in München. Er ist Gründungsmitglied und bis heute Sänger der „Goldenen Zitronen“, einer Hamburger Punkband. Zusammen mit Rocko Schamoni und Wolf Richter betreibt er außerdem den „Golden Pudel Club“ in Hamburg. Seit einigen Jahren ist er auch als Theaterregisseur und -autor tätig. In Oberhausen entwickelte er bereits das Theater-Fußball-Projekt Abseitsfalle, ein Stück zur Finanznot im Ruhrgebiet.

Definitiv, würde ich sagen. Man merkt, dass unsere Utopien nachlassen, zum Teil verschwinden. In meiner Wahrnehmung, also das, was ich als Utopie kennengelernt habe, eben so etwas wie James Bond, war vieles früher utopisch. Das wurde ja auch so benannt, da kam man in diese Zauberwerkstatt, wo dann das neueste Auto mit Raketenantrieb oder irgendwas vorgestellt wurde. Oder Bond hatte ein Bildtelefon und fuhr in irgendwelche Gegenden auf der Welt und kam da ganz schnell an. Da hat man gedacht „Hey, Wahnsinn, ob es das irgendwann mal gibt?“ Das alles haben wir längst erreicht. Ich habe selbst gerade ein Bildtelefon in meiner Hosentasche, und wenn ich 1.000 Euro habe und den richtigen Pass, und nur dann übrigens, kann ich mich über die ganze Welt treiben lassen. Also, diese Utopie ist erst mal durchgespielt. Wenn es um Fiktion geht: Auf dem Mond waren wir schon, das war ein Riesenspektakel. Wir wissen, dass wir absehbar wahrscheinlich nicht auf den Mars kommen werden, weil dann doch ein Menschenleben vergeht, ehe man da ist. Auch sonst spricht man ja vom Ende des Wachstums, da sind Räume irgendwie verdichtet – da ist nicht mehr viel zu holen. Wir sind alle ziemlich schnell geworden, man kann in Überschall fliegen, ja sogar springen. Trotzdem wird die Welt immer ungerechter. Aber selbst das, was wir uns so als Utopie auch innerhalb der Industrialisierung aufgebaut haben, scheint irgendwie erreicht. Deshalb spricht man ganz pauschal vom Ende des Wachstums. Ich glaube, die nächste Utopie ist eigentlich wieder eine ganz alte, nämlich, sich wieder zu verabreden und physisch zu treffen. Ich glaube, es gibt ein Comeback der Agora, des Marktplatzes. Der wird wieder eine Rolle spielen. Das Physische, das Kollektiv wird wieder eine Rolle spielen. Das merkt man in den letzten zwei Jahren an den ganzen Protesten, ob das nun Occupy oder Wutbürger sind oder die Demos auf dem Tahrir-Platz. Das sind physische Begegnungen, obwohl man noch von Facebook-Revolution spricht, was ja eher eine Art Cybertreffen im Netz ist. Wir wollen uns wieder begegnen, und das ist auch ein Teil meiner Utopie, mit ganz vielen Leuten auf der Bühne so etwas zu machen.

Der Kaninchenbau als Entwurfeiner immer schwerer zu fassenden Welt: Haben wir auch eine Krise der Strategien?
Auch. Sicher. Als behaupteter politischer Künstler, der ich bin, der ich jetzt strategisch an Stoffe rangehe, habe ich insofern nach Adorno auch eine Krise, weil, ich mache das zwar und behaupte damit vielleicht, etwas richtig zu machen, aber ich weiß natürlich auch, dass es nichts Richtiges im Falschen gibt. Das ist ein Problem. Man kann noch so strategisch sein, man kann sich noch so gegenkulturell geben, man hilft trotzdem immer dem System. Es gibt keine Antisysteme mehr. Alle Strategien scheinen immer nur dem ganzen System zu dienen. Ob du dafür oder dagegen bist, alles dient letztlich der Maschine, und das ist auch ein Problem. Man kann nur Schaden begrenzen, ist nur noch am Reagieren und nicht mehr am Agieren. Deshalb spricht man auch in der Wirtschaft von Schutzschirmen und Rettungsaktionen, aber das scheinen alles nur Pflaster zu sein. Und die, die noch Gewalt hätten, wollen auch nicht mehr. China holt auf, macht aber auch nichts Neues. Die wollen auch nur diesen Stand erreichen. Und von daher scheint es auch keine utopischen Strategien mehr zu geben. Man hat ja erst die Ideologien beerdigt, was ja auch Strategien sein können, und jetzt ist man angekommen in dem Burnout, in dem wir alle leben. Man sucht eigentlich nur noch nach Entschleunigung, was auch eine Art von Verlangsamung wäre, aber es scheint keine, sagen wir mal, vorwärtsgerichtete Strategie zu geben. Also alle Strategien, die irgendwelchen Sinn machen, sind Verlangsamungen, was ja auch OK ist. Also auch meine Strategie wird eher kleiner als größer.

Also Krise, Krise, Krise. Wie müsste Ihr Wunderland aussehen?
Das weiß ich nicht. Wenn ich es wüsste, wäre ich entweder reich oder aber glücklich, oder sagen wir mal ein Superrevolutionär, der der Menschheit ein Wunderland bringen könnte oder zumindest einen Vorschlag dazu machen würde. Mein Wunderland ist auf jeden Fall experimentell. Ich habe Freude daran, weiterhin zu probieren, mich mit Menschen gemeinsam einem Thema zu widmen und dann da naiv ranzugehen und Versuche zu machen. Das halte ich auch für das adäquate Mittel, dem Ganzen zu begegnen, also wieder ursprünglich zu werden, soweit das noch geht. Das ist eine Strategie, die ich auch in der Kunst immer interessant fand. Ich finde Surrealismus genauso interessant wie Situationismus und Dadaismus. Mein Wunderland ist abseits der Ordnung, wenn es geht. Aber das ist natürlich schwer.

Im Klappentext des Stückes steht eine Frage: Schadet Schule? Ist das tatsächlich so?
Schwer zu sagen. Ich glaube, ich bin tatsächlich immer noch scharfer Bildungssystemkritiker. Ich habe das Gefühl, dass wir ein Bildungssystem haben, das nicht die richtigen Fragen stellt. Also wenigstens die Grundfragen stellt. Unser Bildungssystem scheint nur vorzubereiten, weiterhin auf den Ernst des Lebens, auf die Arbeit, die da kommen soll, denn ohne scheint es nicht zu gehen. Ich halte es da mit Marcel Duchamp, der fragt, ob es wirklich wichtig ist, leben zu können oder arbeiten zu müssen, um leben zu können. Von daher sehe ich das weiterhin als ein großes Problem und bleibe Systemkritiker. Weil ich auch schlechte Erfahrungen gemacht habe.

Daniel Cohn-Bendit hat mal gesagt, keiner bräuchte Arbeit, alle bräuchten nur Geld.
Ja, das stimmt. Da sieht man schon das Problem, weil Geld ja leider auch nur ein Mittel ist. Ich suche weiter nach Alternativen und freue mich immer über so Dinge, wie wenn ich erfahre, dass in Papua-Neuguinea die Leute zum Beispiel das Zählen ablehnen. Das finde ich interessant. Man zählt dort nur eins, zwei und dann kommen einfach nur viele. Oder es gibt einen Amazonasstamm, der zählt überhaupt nicht, weil sie glauben, dass man sich damit abschafft. Solche Dinge interessieren mich. Was wir auch abschaffen, ist Fremde, und ich habe Lust auf Fremde. Die meisten Leute haben Angst vor der Fremde. Ich will gar nicht sagen, dass ich das alles gut hinkriege, aber das sind weiterhin die Sachen, die mich interessieren. Die Frage nach den Krisen hat auch damit zu tun, dass wir probieren, keine Fehler zu machen und uns zurechtzufinden in dem, was gegeben ist. Ich suche aber nach den Dingen, die gar nicht gegeben sind. Das ist für mich auch wieder das Wunderland. Deswegen ist „Alice im Wunderland“ ein wirklich gutes Buch. Wir spielen zwar nicht das Buch, aber die Grundsituation ist fantastisch. Da sucht jemand auch nach einem Flecken oder einem Entwurf, der abseits der Ordnung steht. Das ist toll, das gibt es selten.

„Alle im Wunderland“ I 1.3., 2.3., 17.3., 25.4., 8.4., jeweils 19.30 Uhr I Theater Oberhausen I 0208 857 81 84

INTERVIEW: PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

We Live In Time

Lesen Sie dazu auch:

Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24

Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24

„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24

„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24

Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24

Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24

Vom Elvis zum Cowgirl
„The Legend of Georgia McBride“ am Theater Oberhausen – Prolog 02/24

„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24

Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23

Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23

Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23

Apokalyptische Symbole
„Der lange Schlaf“ in Oberhausen – Theater Ruhr 07/23

Premiere.

HINWEIS