Entführer, Mörder, Menschenfresser und Folterknechte sind die Hauptdarsteller auch der deutschen Märchenwelt. In über 200 Geschichten berichten die Brüder Grimm von den Wahnsinnstaten ihrer Glückssucher, die nicht selten in ungeheuerliche Verbrechen verstrickt werden. Ihr Sammelprojekt war zutiefst romantisch – eine Kriegserklärung an die Rationalität des frühen 19. Jahrhunderts. Sie hielten dem Licht der Aufklärung die Dunkelheit der Wälder und die Urverstrickung der Menschen mit dem Bösen entgegen: Wenn irgendetwas dauerhaft über der Märchenrepublik scheint, dann der Mond – und unter ihm heulen die Wölfe. Unterstützt werden sie von Musikern der Extraklasse: Neben Paul Wallfisch stehen Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten, Multiinstrumentalist Mick Harvey (Mitbegründer von Nick Cave and The Bad Seeds), sowie die Mitbegründerin der Loveparade, Danielle de Picciotto, live auf der Bühne.
Sind die Sterntaler von damals der Lotto Jackpot von heute?
Kann man so sehen. Ich mache das Märchen leider nicht. Aber es ist ja auch weniger die Frage, woher das Geld kommt, als vielmehr was man damit macht. Das ist ja die Tragik, wenn man plötzlich einen goldenen Topf findet, der unter dem Regenbogen vergraben ist. Was macht man damit, ohne wahnsinnig oder umgebracht zu werden?
Mord, Totschlag, Folter – viel ändern tut sich auf dem Planeten nicht.
Es gibt bestimmte Konstanten. Ich glaube, dass sich Geschichte spiralförmig entwickelt, sie wiederholt sich zwar, aber es gibt die Chance, jedes Mal ein kleines bisschen mehr zu lernen. Natürlich sind die Märchen die Bildzeitungsgeschichten des Mittelalters und vielleicht sind sogar uralte Mythen die Bildzeitungsgeschichten der Antike.
Also Tiefenpsychologie für jedermann?
Tiefenpsychologie finde ich bei Märchen nicht interessant. Man kommt natürlich nicht drum herum, bestimmte Bilder zu deuten. Aber ich finde dieses pseudo-freudianische langweilig. Ich finde es eher interessant, das unter gesellschaftlichen Aspekten zu betrachten.
Und in der Republik der Wölfe wird auch noch gesungen?
Da wird auch noch gesungen.
Und dafür sorgt die hochkarätige Band?
Die ist extrem hochkarätig. Da habe ich schon richtig Komplexe, weil man wahrscheinlich einzelne Leute von dieser Band oder eher die Bands, in denen diese einzelnen Leute spielen, sehr gut kennt. Insofern muss ich als Regisseurin da richtig hart arbeiten.
Die Band wird quasi wichtiger als das Stück?
Das glaube ich nicht. Aber dadurch, dass ich sehr viel über Bilder und mit Musik arbeite, entsteht eine gewisse Videocliphaftigkeit, also eine Bildhaftigkeit auf dem Theater kombiniert mit Musik, was ich sowieso sehr präferiere. Aber die Schauspieler kommen mal hier mal da auch mal zu Wort.
Was hat die amerikanische Dichterin Anne Sexton besser gemacht als die Grimms?
Das weiß ich nicht. Ich glaube, nichts. Anne Sexton wurde mir von unserem amerikanischen Theatermitarbeiter Paul Wallfisch empfohlen. Ich bin ihm sehr dankbar für diese Grimm-Interpretation, weil Anne Sexton wohl die Einzige ist, die diese Märchen poetisch und trotzdem modern bearbeitet hat. Und das sind keine Parodien, die unter den Bearbeitungen ja auch gibt oder eben dieses freudianisch Durchgedängelte. Bei ihr ist eben dieser Mix aus moderner Tiefenpsychologie, ohne dass es Humor und Leichtigkeit verliert und Tiefe und Leichtigkeit und man kann darin ganz viel sehen, man muss es aber nicht. Es hat viele Schichten. Wir lesen es gerade mit den Schauspielern und es ist wahnsinnig inspirierend was Sexton da für moderne Bilder mit diesen alten Geschichten kombiniert.
Wird das Märchenmassaker eher eine Nummernrevue oder ein Musical?
Keins von beiden. Ich hoffe sehr, dass es ein langer, musikalischer Traum wird. Weil Nummernrevuen interessieren mich nicht und Musical interessiert mich auch nicht. Mich würde eher Oper interessieren, mich würde eher das Gesamtkunstwerk interessieren, was sich die Oper ja herausnimmt zu sein. Sprechtheater mache ich ja sowieso nicht – ich finde Sprechtheater irgendwie komisch. Aber Schauspielertheater kann auch ein Gesamtkunstwerk sein und eigentlich interessiert mich das mehr. Musical finde ich langweilig, weil ich da schon als Kind immer gesagt habe: Ah, jetzt singen sie wieder.
Also eine Performance mit Musik?
Ich würde sagen Bilderreigen mit Musik oder Traum. Also ich hoffe, dass die Leute reingehen und zwei Stunden lang in einem Traum sind, der akustisch, visuell, meinetwegen auch voller Gerüche ist. – Dass man wirklich sagt, man ist in einem Traum, einem Albtraum oder einem schönen Traum. Deswegen würde ich sagen, es wird Bildertheater mit Musik.
Aber nichts für Kinder?
Ich finde diese Märchen sind eh nichts für Kinder. Abgesehen davon – natürlich können Kinder sich das anschauen, aber die Eltern, die mit diesen Kindern reingehen werden das ganz schlimm finden, weil in diesen Märchen passieren immer so viele schlimme Sachen. Diese Märchen sind grausam und mich interessiert auch diese Grausamkeit. Ich würde also sagen, im gängigen Sinne ist das nichts für Kinder – obwohl ich als Kind solche Sachen immer ganz toll fand, bloß die Eltern sagten immer das darfst du nicht sehen.
Jetzt werden die Märchen in die zeitgenössische Urbanität versetzt: Fehlt uns heute etwa die Dunkelheit der Wälder?
Ja. Aber ich glaube, wir finden diese Dunkelheit woanders. In der Dunkelheit der Großstädte. Ich glaube, dass das, was unsere Vorfahren als die Dunkelheit der Wälder empfunden haben, tatsächlich sehr bedrohlich war. Erst die Romantik hat ja den Wald zu irgendwas Niedlichem, Schönen gemacht. Aber das waren einfach böse Orte, an denen man sich auch ungern aufgehalten hat und froh war, wenn man schnell in der nächsten Stadt war. Mittlerweile ist das umgekehrt, zumindest in Deutschland. Es sind ja auch nicht so viele Bären unterwegs wie beispielsweise in Amerika. Ich glaube, dass die dunklen Gassen in bestimmten Städten die Dunkelheit der Wälder in ihrer Bedrohlichkeit abgelöst haben.
„Republik der Wölfe“ | Premiere: Sa 15.2. 19.30 Uhr | Theater Dortmund | 0231 502 7 2 22
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